Wir müssen reden … mit Elisabeth Michelbach

Elisabeth Michelbach

Literatur im Netz I

Internetliteratur als Forschungsgegenstand

Elisabeth Michelbach (29) promoviert am Graduiertenkolleg Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung zum Blog als autobiografische Gattung der digitalen Gegenwart. Theresa Schmidt hat mit ihr über die Zukunft der Germanistik und Kanonisierungsversuche von Internetliteratur gesprochen.

open mike blog: Als ich Dich gefragt habe, ob wir dieses Interview zum Thema Literatur im Netz machen können, hast Du mich vorgewarnt und gesagt, dass das alles aus einer wissenschaftlichen Perspektive nicht mehr so sexy klinge. Das wollen wir doch erst mal sehen. Worum genau geht es in Deiner Dissertation?

Elisabeth Michelbach: Es ist eine literaturwissenschaftliche Arbeit und sie basiert eigentlich auf zwei Pfeilern: Zum einen geht es darum, systematisch zu klären, um was für ein Format es sich handelt, also um eine Art Medienbegriff des Blogs. Auf der anderen Seite sollen Blogs als eine autobiografische Textsorte beschrieben werden, die an autobiografische Literaturtraditionen anschließt. Man denkt natürlich sofort an Tagebücher, Reisejournale, Krankheitstagebücher oder Briefwechsel. Im letzten Schritt werden Fallbeispiele analysiert, das ist in meinen Augen die Kür.

open mike blog: Du spricht von den analogen Vorbildern Tagebuch oder Briefwechsel. Worin liegt denn im Gegensatz dazu die digitale Spezifik der Internetliteratur?

Elisabeth Michelbach: Ich glaube, dass die Begriffe Spezifik und Internetliteratur schon einmal gar nicht gut zusammengehen. Man muss extrem differenzieren. In meiner Dissertation geht es wirklich nur um den autobiografischen Blog. Eine Spezifik, die im ganz lapidaren Vergleich zum Tagebuch zum Beispiel auf der Hand liegt, ist, dass da sofort etwas veröffentlicht wird. Das ist bemerkenswert: Wenn man an einen Begriff wie Journale intime denkt, ist ja erst einmal klar, dass da jemand etwas für sich selbst schreibt und dass es um hochsensible Informationen und Selbstreflexion geht. Im Blog dagegen hat man die Veröffentlichung immer sofort mit eingekauft. Auch wenn es nur eine kleine Community liest, könnte es potenziell die ganze Welt lesen. Ein zweiter Punkt der Medienspezifik ist das dialogische Element. Das Medium Blog sieht vor, dass Kommentare eingehen, dass man in Austausch tritt und sich einer blogtypischen Art und Weise vernetzt. Angefangen bei der Blogroll, in der man auf andere verweist, aber auch dadurch, dass man Diskussionen von anderen Blogs aufnimmt und sich darauf bezieht. Es sind paradoxe Phänomene, die da zusammenkommen: diese sehr selbstbezogene, zurückgenommene Gattung und dann diese medienspezifischen, am Austausch interessierten Gegebenheiten. Deswegen ist es auch so kompliziert, das wissenschaftlich zu fassen. Zum Teil müssen Begriffe neu geprägt werden, weil sich die, die wir aus der Literaturwissenschaft kennen, nicht mehr vollumfänglich eignen.

open mike blog: Die Literaturwissenschaft wächst also mit ihren Aufgaben. Wie muss man sich denn eine solche Veränderung des literaturwissenschaftlichen Vokabulars vorstellen?

Elisabeth Michelbach: Die Modifizierung in den Begrifflichkeiten sind ganz oft so etwas wie „Dynamisierung“ oder auch, dass man viel mehr in Prozessen denken muss, als in abgeschlossenen Abschnitten. Texte und Autorschaft müssen sehr viel fluider gedacht werden. Man hat zwar einen übergeordneten Blogautor, aber es gibt eben auch die Kommentatoren, die den Autor beeinflussen oder ihn anregen, einen Text noch mal zu überarbeiten. Auch der Leseprozess hat sich verändert: Man liest nicht mehr von vorne nach hinten, sowieso nicht, sondern stückchenhaft und teilweise auch immer wieder, eben weil sich Veränderungen eingetragen haben.

open mike blog: Wie reagiert denn die klassische Literaturwissenschaft auf solche Entwicklungen: Erfährst du eher Gegenwind oder Zuspruch auf Deine Vorträge und Artikel?

Elisabeth Michelbach: Das ist ganz unterschiedlich. Überhaupt geht es oft erst einmal um die Tatsache, dass man sich mit derart unkanonisierten Texten und Autoren beschäftigt. Es gibt Orte wie das Graduiertenkolleg, an dem ich arbeite, wo das gewünscht ist und wo das fast schon als Begründungszusammenhang für das Fortbestehen der Literaturwissenschaft und der Germanistik hergenommen wird. Dort heißt es: Wenn wir irgendwie relevant bleiben wollen, sollten wir uns mit diesen gegenwärtigen Phänomenen befassen und müssen etwas zu Digitalisierungsprozessen sagen. Das sind auch die Kontexte, denen ich mich aussetze. Wo ich eher nicht hingehe, ist dann der große Rest der traditionellen Germanistik. Die hat große Verdienste, die ich überhaupt nicht abwerten möchte, aber es gibt natürlich Vorbehalte demgegenüber. Vor allem, wenn man die drei Einheiten Autor, Leser, Werk aufweicht. Germanistik wird eher als eine historische Wissenschaft verstanden. Aber es gibt auch das andere Extrem Internet Studies, die so etwas wie Geschichtsvergessenheit propagieren. Dort wird dann gesagt, dass man das alles mit traditionellen literaturwissenschaftlichen Begriffen gar nicht verstehen könne und dass man ganz stark in dieser Praxis des Twitterns und so weiter verhaftet sein müsse. Das glaube ich wiederum auch nicht. Es ist wichtig, historische Parallelen zu ziehen und auch zu zeigen, dass vieles, was im Internet passiert, gar nicht so neu ist.

open mike blog: Trotzdem scheint dieser Gedanke an den Universitäten bislang nicht angekommen zu sein. Es gibt zwar das Graduiertenkolleg in Göttingen oder auch den Master Literatur und Medienpraxis an der Universität Duisburg-Essen, sonst aber eher wenige Angebote zum Thema. Ist es deiner Meinung nach überhaupt zeitgemäß, die Trennung zwischen Literatur im digitalen Zeitalter und der klassischen Germanistik aufrechtzuerhalten, oder wäre eine Fusion nicht viel sinnvoller, weil Internetliteratur längst auch zum Teil der Literaturgeschichte geworden ist?

Elisabeth Michelbach: Auf jeden Fall, ich würde dafür plädieren. Im Moment kann man eher eine Ghettoisierung beobachten kann. Bei uns in Göttingen kommt das gar nicht unbedingt in die Curricula rein, sondern ist nur ein Thema für die Graduiertenausbildung. Klar, wenn meine Kollegen oder ich Seminare geben, dann sind das die Themen, die wir da rein tragen.

open mike blog: Warum diese Scheu vor dem Internet und diese reaktionäre Haltung in der Lehre?

Elisabeth Michelbach: Ich glaube, der Punkt ist ja gar nicht so sehr das Medium, also die Feststellung, dass auch Literatur im Internet entsteht. Die Frage ist eher: Wie steht es denn eigentlich generell um die Gegenwartsliteratur in der literaturwissenschaftlichen Ausbildung. In meinem Studium war sie fast ein bisschen verpönt. Und ich glaube, der Grund ist, dass man in der Literaturwissenschaft durch die Kanonisierungsprozesse einen Abstand zur Gegenwartsliteratur hat. Nach dem Motto: Wenn wir bei unserem Goethe bleiben, dann hat das auf jeden Fall einen Wert. Wir begeben uns da nicht so sehr aufs Glatteis. Ich fände es auch wichtig, dass Gegenwartsliteratur stärker in den Deutschunterricht einfließt. Natürlich nicht auf Kosten einer fundierten, historischen Ausbildung. Ich würde also nicht diesen Medienwechsel so zentral machen, sondern tatsächlich Aspekte der Gegenwartsliteratur, die die Internetliteratur mit einschließen.

open mike blog: Ich finde den Aspekt der Kanonisierung als Relevanzkriterium für Texte interessant, das ist ja ein höchst streitbares Feld. Gibt es so etwas auch für die Internetliteratur und wer würde für Dich in so einen Kanon gehören?

Elisabeth Michelbach: Das Zustandekommen von Kanons ist in der Tat sehr problematisch. Ein bisschen trägt zum Beispiel das Deutsche Literaturarchiv in Marbach dazu bei. Dort gibt es das große Projekt Literatur im Netz, bei dem literarische Blogs archiviert werden. Das ist eine Art Kanon, weil die Blogs irgendwie von irgendeinem Bibliothekar für konservierenswert erachtet worden sind. Das ist natürlich mit Vorsicht zu genießen, weil man auch ganz deutlich die Blog-Netzwerke dahinter sieht. Wenn ich jetzt sagen müsste, wer mir wichtig wäre, dann wäre das Melancholie Modeste, der Blog einer Berliner Juristin, die anonym schreibt, schon seit über 15 Jahren. Sie schreibt tagebuchartige Miniaturen, meistens sehr erkennbar aus ihrem Leben heraus, dann aber auch wieder hochartifiziell und ein bisschen verästelt. Den würde ich zu meinem persönlichen Kanon hinzugefügt wissen wollen.

open mike blog: Welche Maßstäbe legst Du an literarische Blogs an – geht es nur um die Literarizität der Texte, oder fließen auch Größen wie Reichweite, Likes oder Netzwerk des Bloggers mit ein?

Elisabeth Michelbach: Als ich die Blogs für meine Fallstudien ausgewählt habe, war das eine Mischkalkulation. Das können Kriterien wie Poetizität und Literarizität sein, eine spezifische Form der Sprachverwendung, die sehr künstlerisch ist. Und dann ist es mir völlig egal, ob das überhaupt jemand liest außer mir. Natürlich machen literarische Blogger nicht so offen quantifizierbar, wie viele Likes sie haben. Aber man kann zum Beispiel sehen, wie engagiert Debatten geführt wurden. Und dann haben wir die paradoxe Situation, dass so ein Un-Blog wie Arbeit und Struktur von Wolfgang Herrndorf der wohl bekannteste literarische, autobiografische Blog geworden ist. Un-Blog deshalb, weil ganz viele Sachen, die eigentlich zentral für das Format sind, wie der Austausch mit Community oder das Zulassen von Kommentaren, dort abgestellt waren. Herrndorf hat den Blog sehr traditionell wie ein Tagebuch benutzt, was ja am Ende auch zur Buchpublikation geführt hat. Obwohl der Blog nicht sehr viel von dieser Medienspezifik mittransportiert hat, denke ich nach wie vor darüber nach, ihn als eines meiner Fallbeispiele auszuwählen.

open mike blog: Herrndorf war bereits ein etablierter Autor, als er seinen Blog begonnen hat, seine Romane und der Blog haben sich gegenseitig Leser verschafft. Im Vergleich zu anderer digitaler Literatur, die zum Beispiel in Indie-Ebook-Verlagen publiziert wird, gibt es für die Internetliteratur sonst jedoch keine Gatekeeper, also keine Instanz die sagt: Das ist gute Literatur. Wie findet man die?

Elisabeth Michelbach: Keine Ahnung, vielleicht hab ich die allerbeste Literatur noch übersehen, das wäre schrecklich. Ich glaube, Marbach will auf jeden Fall ein Gatekeeper sein, und das ist auf jeden Fall eine Instanz, die auch mich im Hinblick auf meine Arbeit irgendwie beruhigt. Das Einzige, was gegen die Unsicherheit hilft und was auch immer stimmt, wenn man geisteswissenschaftlich arbeitet, ist, dass es eine subjektive Brille gibt. Es bildet sich natürlich ab, wo ich so rumsurfe, und es kann auch sein, dass mir wirklich etwas durch die Lappen gegangen ist. Aber mein Ansatz ist ja auch eher ein systematischer, es ist ja nicht so, dass ich einfach eine Arbeit über einen Blogger schreibe. Das wäre zu … interessant, oder? Natürlich schreibt jeder eine Arbeit zu Goethe, aber keiner schreibt eine zu einem Blogger, außer vielleicht zu Alban Nikolai Herbst oder Herrndorf. Man denkt, es sei nicht wichtig genug.

open mike blog: Du hast selbst einen dissertationsbegleitenden Blog mit dem sprechenden Namen Der Tod des Romans. Er liegt zwar gerade ein bisschen brach, Du hast aber auch kommuniziert, dass sein Todesurteil noch nicht gesprochen wurde. Beitreibst Du mit Tod des Romans einen literarischen Blog?

Elisabeth Michelbach: (Lachen) Nein, um Gottes Willen. Der Grund, warum da so wenig stattfindet, ist, dass ich mich schwertue, mich für einen Ton zu entscheiden. Ich dachte, dass ich dort Berichte aus meiner Diss-Werkstatt veröffentlichen kann und habe dann gemerkt, dass ich überhaupt keine Lust habe, so sehr viel über mich zu sprechen. Ich fand das alles irgendwie larmoyant. Ich habe auch Vorbehalte gegenüber Facebook und Twitter, das ist mir irgendwie unangenehm. Ich beschäftige mich so intensiv damit, dass Leute das machen, aber kann es nicht für mich selbst. Es geht besser, wenn ich über ein Thema schreibe. Aber ich habe immer noch die Idee, das nicht völlig einschlafen zu lassen. Auch um die Möglichkeit zu haben, dort zum Beispiel Links, die sich verändert haben, updaten zu können, wenn die Arbeit einmal abgegeben ist.

open mike blog: Vorbehalte gegenüber Twitter, das ist interessant. Kannst du denn ohne diese Praxis deine Dissertation überhaupt schreiben?

Elisabeth Michelbach: Ich finde schon, dass es wichtig ist, dass man weiß, wie Blogsoftware funktioniert oder dass man selber mal einen Blog gestartet hat. Ich habe auch viel bei Blogprojekten mitgearbeitet und kann dieses Gefühl nachvollziehen: Man veröffentlicht einen Text, wartet auf Reaktionen und wenn Reaktionen kommen, was passiert dann? Das funktioniert ja auch für mich, solange es nicht mich zum Gegenstand hat. Deswegen würde ich schon sagen, dass ich diese Dynamiken nachvollziehen kann. Gleichzeitig muss ich ja auch jetzt nicht Goethe sein um Goethe lesen zu können …

open mike blog: … womit wir wieder beim Kanon wären. Von welchem Autor aus dem klassischen Kanon würdest Du denn gern mal einen Blog lesen?

Elisabeth Michelbach: Dieser Tod des Romans-Begriffs kommt ja aus der amerikanischen Tradition von Jonathan Franzen und Philip Roth, die immer sagen, dass das Internet der Abgesang der Literatur ist. Vielleicht also was von Jonathan Franzen, was nie passieren wird. Der ist doch Vogelliebhaber. Ein Vogeltagebuch von Jonathan Franzen, das wär’s.

Elisabeth Michelbach studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft in Berlin, Lausanne und Hildesheim. Seit Oktober 2013 arbeitet sie am Graduiertenkolleg Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung der Georg-August-Universität in Göttingen und promoviert zum Blog als autobiografische Gattung der digitalen Gegenwart. Im Zuge der Praxisphase war sie Volontärin im Rowohlt Berlin Verlag und bloggt dissertationsbegleitend auf Der Tod des Romans.

Im Interview Literatur im Netz II sprechen wir mit der anonymen Autorin von Melancholie Modeste, ein Blog, den Elisabeth Michelbach zu ihrem persönlichen Kanon hinzufügen würde.

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