Philipp Enders: „meerzwiebel“

Constance Katharina Marie, eine Baronesse preußischer Abstammung und Dylans Ururgroßmutter. Das lebensgroße Bildnis zeigte eine Frau im weißen Tüllkleid, die ihren Betrachter vorwurfsvoll musterte, egal, wo im Raum sich dieser aufhielt. Ihr Blick erinnerte an die Fratze auf den scheinbarocken Gemälden in der Geisterbahn, die den Besucher gruseln sollten und ihn letztlich doch nur belustigten. Unter dieser unerbittlichen Beobachterin lag Katharina, seine Mutter, furzte feucht in ihre Windeln und sagte: „Ich möchte gefickt werden.“

Der letzte Text des open mike-Wettbewerbs ist noch mal ein richtiger Kracher: Was Philipp Enders hier auf ein paar wenigen Seiten entfaltet, ist eine Geschichte der 68er-Generation, ein Blick auf die Lebenslügen bürgerlicher Existenzen und zudem eine völlig neue Art über die Demenzkrankheit zu schreiben. „meerzwiebel“ erzählt von Dylan und seiner Mutter Katharina. Die mittlerweile demente Frau ist eine klassische Vertreterin der 68er: großbürgerliche Herkunft, wilde Jugend und schließlich die Reintegration in ordentliche Verhältnisse, nachdem die Lust auf Revolution verklungen war.

Dylan stammt aus dieser Zeit der Revolte. Hervorgegangen aus einer Gelegenheitsbeziehung, wächst er mit einer Mutter auf, die die Kommune gegen die Reihenhaussiedlung eintauscht, dann vereinsamt und schließlich erkrankt. Man möchte meinen: Diese Frau, die die einfachsten Dinge des Alltags nicht mehr bewältigen kann, hat mit der Katharina von einst nicht viel zu tun. Doch Philipp Enders kommt auf eine grandiose Idee: Gerade in der Demenz findet Katharina zu einer Form der Anarchie zurück, die während der Bürokraten-Ehe längst verloren schien. Das ständig formulierte Mantra „Ich möchte gefickt werden.“ erzeugt eine absurde Erotisierung im Moment der völligen Hemmungs- und Hilflosigkeit.

Hier wird keine Krankheit glorifiziert, sondern gezeigt wie durch die Demenz ein Zugang zu einer bewusst vergessenen Phase ihres Lebens geschaffen wird. Enders vermag es, einen solch prototypischen Lebenslauf mit sehr viel Fingerspitzengefühl zu erzählen: Wie aus Katharina erst wieder Mamá wird, um dann wieder Katharina zu werden. Die Heuchelei vieler Vertreter der einstigen Revolutionäre kennen wir natürlich. Dafür brauchen wir nur in die Biographie eines Joschka Fischers zu schauen. Doch bislang hatte diese Narration zwei Phasen (Revolution und Rückkehr in die Spießigkeit). Philipp Enders zeigt uns die dritte Phase.

Sie heiratete einen soliden Bürokraten und verlangte von Dylan, dass er sie von nun an Mamá nannte. Die Ehe blieb kinderlos. Katharina war nicht mehr die Jüngste, der Bürokrat war noch älter, wurde krank und starb irgendwann, genauso wie Dylans Großeltern. Seine Mutter und er waren wieder allein. Diesmal aber war es anders. Etwas Bitteres hatte sich in die Partie um Katharinas Mund geschlichen. Von der Energie der Außerparlamentarischen Opposition war nicht mehr übrig.

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