Anna Gräsel: »Drinnen«

Wir tauchen ein in das Drinnen, das Haus und die Seele, einer sich vor Sehnsucht und (Liebes-)Kummer verzehrenden Ich-Erzählerin. Es ist eine Figur, die wartet, hofft, Tag für Tag, auf ein Du, dass sie aus ihrer Einsamkeit erlösen möge. Sich zwanghaft selbst inszenierend, lebt und handelt, ja, schämt sich diese Figur präventiv, es könnte ja sein, dass …

„Ich hatte meine schönste Unterhose an, nicht die schönste, die, in der ich am besten aussehe.“

Gräsel zeigt hier eine Figur in all ihrer Kaputtheit, ihre Zwangs- und Essstörung, ihre Psychose. Das berührt, weiß sie doch um die Ausweglosigkeit ihrer Lage: Wenn sie am Ende ihren Koffer packt und sich mit grobem Werkzeug eine Warze aus dem Fuß operiert, scheint es, als würde sie sich nicht nur überschüssige Hornhaut sondern auch einen Teil ihrer Geschichte aus dem Körper schneiden. Aber sie weiß da schon: Hornhaut kommt wieder.

Lektor Günther Eisenhuber sagt über den ersten Satz in Anna Gräsels Text: „Vor einer Tür zu stehen und zu warten, ist nicht besonders spannend. Aber es hängt davon ab, ob man aus so einer Situation Literatur machen kann. Und das macht sie ganz wunderbar.“ Sehe ich auch so.

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Leseprobe: Anna Gräsel; Drinnen 

Ich habe dann immer wieder vor der Tür gestanden und gewartet. Ich hatte meine schönste Unterhose an, nicht die schönste, die, in der ich am besten aussehe. Ich habe mir die Fußnägel lackiert. Ich mag lackierte Fußnägel generell, meine Füße insbesondere nicht, und die Kombination macht es fast unerträglich, allein mein blanker Fuß ist schlimmer. Ich weiß, dass die Farbe ihn mehr in den Fokus rückt, statt zu tarnen, aber mit der Lackierung wird er maskiert, daher Sicherheit, das bin ich nicht.

Es war schön vor der Tür, schön, weil es wirklich schön war, in der Sommernacht, und wehmütig, weil es wirklich schön war, vor der Tür, nur schön war es nicht. Dann habe ich tief eingeatmet, und es hat funktioniert, drinnen geht das nicht. Horizontlos geht Wehmut nicht, der Luftraum fehlt. Angeblich ist die Lunge, wenn man sie bis in die letzten Lungenbläschen aufschneidet, ausklappt, von der Fläche eines Fußballfeldes. Das hat mich schon immer fasziniert, dass ein Organ, das nur eines unter vielen ist und gar nicht so viel Rumpfraum einnimmt, einem ein ganzes Fußballfeld mitbringt, einfach so drinnen. Und dann der blöde Vergleich, Lunge, Fußball. Trotzdem kann ich mir tatsächlich etwas darunter vorstellen, anders als bei den Atomen oder dem Weltall, aber die Tatsache, dass ich kaum tief einatmen, meine letzten Lungenbläschen nur so selten erreichen kann, scheint zu sagen, ich war zu wenig auf dem Fußballfeld, ich stand zu viel am Rand und habe geraucht. Also, ich stehe in meiner besten Unterhose wehmütig vor der Tür, blähe mein Fußballfeld und ärgere mich, dass ich immer alles schon vorher weiß. Dass ich recht habe und nicht zugeben kann, dass ich hoffte, wieder hoffen werde und diesmal kein Recht. Ich habe dann beschlossen, mich mit meinem Recht abgefunden, das Hoffen sein gelassen zu haben, und bin zum Fenster gegangen. Dort plötzlich sehr zufrieden mit der akuten Lebenslage als Einhausfrau. Ich fantasiere in diesem Haus, was keines ist, indem ich, nicht mal Frau, bin.

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