PROSANOVA 2023: Das kollektive Wir

Ein Gastbeitrag von Clara Dönicke

Wir stellen uns Fragen – seit über eineinhalb Jahren. Diese Fragen betreffen die Texte, die wir lesen, und die Autor:innen, die diese Texte schreiben. Wir befragen uns selbst und den Literaturbetrieb. Und immer wieder kommt die Frage nach dem Wir, das fragt, wie sich dieses Wir konstituiert und was wir meinen, wenn wir Wir sagen.

Wie kommen wir vom Wir auf das Kollektiv? Sind wir ein Kollektiv? Wie genau definiert sich überhaupt ein Kollektiv? Und was ist der Unterschied zur kollektiven Arbeit? Wenn wir kein Kollektiv sind, was sind wir dann? Kann es rein organisatorische Kollektive geben? Welche Dringlichkeit braucht es, um Kollektive zu gründen? Und muss diese Dringlichkeit stetig sein, um ein Kollektiv aufrechtzuerhalten? Können wir uns als Schwarm, als Gruppe, als stetiges Wir bezeichnen? Welche Gründe bewegen ein Kollektiv dazu, sich aufzulösen? Kann es Kollektive mit zeitlicher Begrenzung geben? Wie viel Kompromissbereitschaft braucht es? Wie viel von meinen eigenen Vorstellungen muss ich durchsetzen, um nicht unterzugehen, um mich nicht ausgeschlossen zu fühlen? Wie passiert Ausschluss in einem Kollektiv? Was bewegt jemanden, aus einem bestehenden Kollektiv auszutreten? Kann ich mit den anderen Personen aus meinem Kollektiv befreundet sein? Muss ich es vielleicht sogar? Wie viel Platz kann das Private einnehmen, wenn wir gemeinsam arbeiten? Kann ich etwas verbergen? Wie gut müssen mich die anderen kennen?

Ende Mai haben wir, das PROSANOVA 2023, in Kooperation mit dem Literaturinstitut Hildesheim und dem Literaturhaus St. Jakobi die Veranstaltung »Und dazwischen Zwischenräume. Abend der Kollektive« ausgerichtet. Mit dabei waren fünf Vertreter:innen aus verschiedenen Kollektiven: Sandra Burkhardt von Wiese (Wie es ist), Maren Wurster (ehemals von Writing with Care/Rage), Benedikt Herber von Hermes Baby, Ivana Nekrasov/a von Postmigrantische Störung und Kyra Schmied von Biwi Kefempom. Gemeinsam mit dem Publikum wollten wir in einer Veranstaltung, die sich das kollektive Arbeiten zur Grundlage ihrer eigenen Struktur gemacht hat, unter anderem über die oben aufgelisteten Fragen sprechen.

Unsere Erkenntnisse und Überlegungen sind zahlreich. Wenn wir aus einer Wir-Perspektive sprechen, können wir nichts anderes tun, als ambivalent zu sein. Wir brauchen die Mehrdeutigkeit, den Widerspruch, die Zweifel, das Hin-und-Her-Überlegen. Dies spiegelt sich auch in dem wider, was wir jetzt haben – nach dem Abend der Kollektive.

Einiges bleibt:

Kollektive sind Orte für Kompliz:innenschaft. Wir setzen uns zusammen und versprechen uns einander, versprechen uns dem Kollektiv. Ich muss mein Innerstes nach außen kehren, ich kann nichts verheimlichen, ich kann alles verheimlichen. Ich vertraue meinen Kompliz:innen, meinen Kollektivmitgliedern, meinen Arbeitskolleg:innen, meinen Freund:innen alles an. Wir sind ein Wir, in dem ich als Einzelne nur ich sein kann. Ich kann mich über das Wir definieren, muss es aber nicht unbedingt. Wenn wir uns nur in der virtuellen Welt sehen, kann ich anonym bleiben. Kollektive können geschützte Räume sein, sie können Ausschluss produzieren, der anderen wiederum überhaupt einen Zugriff ermöglichen. Wenn die geschützten Räume in die Öffentlichkeit gelangen, kann es sein, dass sie zerbrechen, weil der Literatur- und Kulturbetrieb auf Ellenbögen und Individuen ausgelegt ist. Das Kollektive findet in einem Betrieb, der das Individuum feiert, keinen Platz. Gleichzeitig können auch Kollektive das Individuelle feiern – indem sie es als unabdingbaren Teil ihrer Selbst verstehen.

Ich kann am Ende sagen, dass ich Teil dieses Wirs bin. Ich bin Teil vom PROSANOVA 2023, einem Wir, das sich gebildet hat und das sich wieder auflösen wird. Ich bin für eine bestimmte Zeit zu einem kleinen Teil geworden, habe mich eingeschrieben in eine Gruppe, die genauso Teil von mir geworden ist wie ich von ihr. Was bleibt, ist unklar. Wir testen die Schamgrenzen, wir testen die Grenzen der Intimität. Wir kehren uns um, wir gehen drei Schritte vor und vier zurück und am Ende ist ein Wir entstanden, das keiner Definition mehr bedarf.


Clara Dönicke
© Anja König

Clara Dönicke ist in Hamburg geboren und studiert Literarisches Schreiben, Musik und Philosophie in Hildesheim. Ihre Prosatexte sind bisher in Anthologien erschienen, 2021 war sie in der Redaktion des vierteiligen Podcasts Die Toten. Beim PROSANOVA 2023 ist sie als Teil der Künstlerischen Leitung für Finanzen und Kommunikation zuständig.


Alle Infos zum PROSANOVA 2023 (23. – 25. Juni) findet ihr hier, Tickets gibt’s dort ebenfalls sowie das Programm im Überblick.

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