Die Lektor*innen des 28. open mike | Teil 1: Tanja Raich, Florian Welling und Angela Tsakiris

Lektor*innen, die: sechs Personen, deren Job es ist, Bücher zu »machen«. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Verlagen und Literaturagenturen, sie kommen aus Berlin, Wien, Köln oder Göttingen, und arbeiten seit Jahren mit Autor*innen an deren Manuskripten, begleiten sie auf dem Weg zum fertigen Buch, sind Ratgeber*in und manchmal auch Freund*in, immer aber »erste*r Leser*in«, und das vor allem kritisch im besten Sinne des Wortes.

Der open mike lädt jedes Jahr eine Reihe von Lektor*innen aus renommierten Verlagen – und in diesem Jahr auch aus einer Literaturagentur – dazu ein, die Vorjury zu sein: Nach Einsendeschluss im Sommer werden die bis zu 600 anonymisierten Manuskripte an die Lektor*innen weitergereicht. Sie lesen und wählen ihre Kandidat*innen aus.

Die ersten drei der sechs Lektor*innen des 28. open mike stellen wir euch heute vor.


Tanja Raich

© www.detailsinn.at

Welche Kriterien haben Sie an die open-mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag heranziehen?

Endlich durfte ich mal Texte lesen, ohne mir Gedanken über den Buchmarkt zu machen oder darüber, ob daraus noch ein spannender Roman werden könnte. Ich muss allerdings zugeben, dass meine Auswahl nicht viel anders ausgefallen wäre, hätte ich die Manuskripte für den Verlag geprüft. Die Texte haben mich mit dem ersten Satz hineingezogen, sie haben mich berührt, überrascht, mit ihrem ganz eigenen Ton überzeugt. Das sind die Kriterien, die maßgeblich für mich sind. Es geht für mich immer um Sprache, um den Ton, um das Besondere, um den anderen Blick auf die Sache.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht? Konnten Sie Tendenzen erkennen?

Um ehrlich zu sein: In Zeiten wie diesen habe ich das Politische etwas vermisst. Überrascht war ich auch darüber, dass die Folgen der Corona-Pandemie und aktuelle politische Ereignisse (bis auf wenige Ausnahmen) keinen Niederschlag gefunden haben.

Welche Entwicklungen und Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?

Ich denke, dass es zu einer Vereinfachung der Sprache gekommen ist, dass die Texte musikalischer geworden sind, vielleicht auch szenischer und filmischer. Das Politische wird vermehrt im Privaten dargestellt. Frauenfiguren werden immer diverser, ambivalenter und unkonventioneller. Und es kommt endlich Bewusstsein für patriarchale Strukturen im Literaturbetrieb auf, die Stimmen werden lauter und langsam bewegt sich auch etwas.

Was reizt Sie an der Arbeit mit jungen Autor*innen?

Die Arbeit am Text ist besonders spannend, da noch so vieles offen ist und sich Lebensthemen erst nach und nach herauskristallisieren. »Jung« heißt für mich aber immer nur: literarisch am Anfang. Eine besonders schöne Erfahrung ist es, eine neue Stimme zu entdecken und die Entwicklung von Buch zu Buch zu begleiten, bis die »neue Stimme« zu einer festen Größe in der literarischen Welt wird. Das sehe ich über die Textarbeit hinaus als meine Aufgabe an. Nicht nur zu entdecken und immer wieder neu anzufangen, sondern dabeizubleiben.

Inwiefern könnte die derzeitige Corona-Pandemie Einfluss auf die literarischen Debüts der kommenden Jahre haben?

Ich denke, dass die Pandemie durchaus den Blick der nächsten Jahre beeinflussen wird. Natürlich wird es Pandemiebücher und Pandemieromane geben, aber ich glaube, dass Autor*innen vermehrt und genauer dorthin schauen, wo durch die Pandemie etwas ins Wanken geraten ist, Prozesse, die in Gang gekommen sind oder sichtbar geworden sind, gesellschaftliche Dynamiken, politische Macht, Zensur und Kontrolle. Und die Literatur selbst wird wohl auch im Zentrum stehen, schließlich ist die Existenz vieler Autor*innen bedroht worden.


Tanja Raich (geboren 1986) ist Lektorin und Autorin. Sie studierte Germanistik und Geschichte in Wien und war von 2011 bis 2020 in verschiedensten Bereichen, zuletzt als Programmleiterin und Lektorin für den Verlag Kremayr & Scheriau tätig. 2015 initiierte sie dort eine neue Literaturreihe mit Fokus auf deutschsprachige Debüts.

Ausgewählte Teilnehmer*innen:

Rosa Engelhardt
Péter Glück
Marie Lucienne Verse

**

Florian Welling

© privat

Welche Kriterien haben Sie an die open-mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag heranziehen?

Im Grunde gab es hier für mich zunächst einmal keinen Unterschied. Können mich die Sprache und die Form eines Textes überzeugen? Wie verhalten sich diese beiden Aspekte zum Thema des Textes? Unterläuft ein solcher Text auch gekonnt Erwartungen, trägt er ein widerständiges Moment in sich? Das sind zumindest meine subjektiven Kriterien, so etwas wie Objektivität gibt es hier, denke ich, ja nicht. Hat mir ein Text gefallen, musste ich mir dann keine Gedanken über ein Kriterium wie das Verlagsprogramm machen, eine Freiheit, die ich durchaus genossen habe – aber nur kurz, darauf folgte für den open mike die mitunter schwere Entscheidung, sich beschränken zu müssen und Texte nicht für das Finale aufnehmen zu können.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht? Konnten Sie Tendenzen erkennen?

Bei meinem Stapel hatte mich überrascht, dass eine recht große Anzahl von Texten psychische und/oder physische Krankheiten zum Thema hatten, einige Texte spielten etwa in einer Psychiatrie. Nicht das Thema an sich, aber die Anzahl hatte mich überrascht.

Welche Entwicklungen und Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?

Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ist so vielgestaltig, dass ich hier befürchte, nicht wirklich Tendenzen benennen zu können, zumal das eigene Verlagsprogramm meinen Ausschnitt auf sie auch beengt.

Was reizt Sie an der Arbeit mit jungen Autor*innen?

Für mich machen den Reiz an meiner Arbeit in erster Linie die Texte und die Zusammenarbeit mit den Autorinnen und Autoren aus, das jüngere Alter hebt sich hier nicht noch einmal besonders hervor. Aus meiner Erfahrung heraus kann ich auch nur sagen, dass jede Zusammenarbeit für sich etwas Einzigartiges und Besonderes hat. Was die Arbeit mit jüngeren Autorinnen und Autoren ein wenig abhebt, ist, dass ihnen naturgemäß die Erfahrung im »Betrieb Literatur« noch fehlt. Hierbei eine kleine unterstützende Hilfe sein zu können und zu dürfen bei dem Weg, sich hier zurechtzufinden, ist ein schöner Aspekt meiner Arbeit.

Inwiefern könnte die derzeitige Corona-Pandemie Einfluss auf die literarischen Debüts der kommenden Jahre haben?

Mit dieser Pandemie ist ein für uns bisher dystopisches Moment Realität geworden, was sicherlich auch in der Literatur zum Ausdruck kommen wird, auch in Debüts. Nicht dass ich glaube, dass es wirklich viele kommende Debüts geben wird, deren Plot explizit während Corona spielt, aber einzelne Aspekte und Fragen, die während dieser Zeit schon aufgetreten sind und/oder noch auftreten werden – gerade im Bereich der Ethik –, könnten, so denke ich, vermehrt zur Sprache kommen.


Florian Welling (geboren 1983) studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Heidelberg und arbeitet seit 2017 in Lektorat und Herstellung beim Wallstein Verlag.

Ausgewählte Teilnehmer*innen:

David Frühauf
Simoné Goldschmidt-Lechner
Daniel Jurjew

**

Angela Tsakiris

© Torsten Woywod

Welche Kriterien haben Sie an die open-mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag heranziehen?

Die Kriterien im Hinblick auf den Verlag und den open-mike-Wettbewerb ähneln sich insofern, als dass es immer erstmal darum geht, einen Text zu finden, der mich anspricht, überrascht und/oder begeistert. Das kann auf vielfältige Weise geschehen. Aber dann gibt es immer noch diese eine Sache, die nur schwer zu beschreiben ist – eine spezielle Energie, die von einem Text ausgeht und der man nachspürt, die einem Text Gewicht und Relevanz verleiht. Im Rahmen des Wettbewerbs liegt der Akzent bei der Auswahl sicher noch etwas stärker darauf als im Verlag, wo die handwerklichen Kriterien eine größere Rolle spielen. Der open mike ist freier, spielerischer, das ist das Tolle daran.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht? Konnten Sie Tendenzen erkennen?

Ich habe mich gefreut, eine große thematische Vielfalt entdecken zu können; es gab gesellschafts- und zeitkritische Texte – z.B. zu Klimakatastrophe oder Flüchtlingskrise –, universelle Themen wie Freundschaft oder Liebesbeziehungen, die Auseinandersetzung mit dem Tod. Eine Tendenz kann man in sehr persönlichen Texten sehen, die ins Autofiktionale weisen.

Welche Entwicklungen und Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?

Mir scheint, die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ist in den letzten Jahren wieder entschieden politischer geworden, kritischer sowohl im Hinblick auf brennende gesellschaftliche Fragen als auch auf den Menschen an sich, seine Geschichte, sein Handeln. Spannend fand ich die Vielzahl an dystopischen Büchern, die erschienen ist. Die eben bereits erwähnte Autofiktion – in Frankreich schon lange etabliert –, die auch bei uns immer wichtiger zu werden scheint. Generell finde ich Texte reizvoll, die herkömmliche Genregrenzen in der Prosa sprengen, ganz neue formale Wege gehen.

Was reizt Sie an der Arbeit mit jungen Autor*innen?

Auch wenn man vielleicht schon jahrelang in einem Verlag arbeitet, schon viele Autor*innen und Bücher betreut hat, so ist es jedes Mal aufregend und schön, mit Debütant*innen zu arbeiten, weil sich die Spannung gewissermaßen auf einen überträgt. Junge Autor*innen bringen neue Perspektiven mit und haben ihre ganz eigene literarische Stimme, die man das Glück hat, neu zu entdecken. Schließlich ist es einfach etwas Besonderes, jemanden am Beginn seiner Karriere begleiten zu dürfen.

Inwiefern könnte die derzeitige Corona-Pandemie Einfluss auf die literarischen Debüts der kommenden Jahre haben?

Das ist natürlich reine Spekulation, aber diese Pandemie ist etwas, das sich auf jeden einzelnen auswirkt, unsere Welt massiv verändert. Selbst wenn die Pandemie nicht direkt inhaltlich Eingang in die Texte finden wird, so werden die Autor*innen mit dieser neuen Erfahrung im Hintergrund schreiben; auch gesellschaftliche Diskurse, die in Literatur einfließen oder auf die sie reagiert, werden von der Pandemie beeinflusst sein. Insofern wird die Pandemie sich wohl auswirken – aber wie, das bleibt abzuwarten.


Angela Tsakiris ist Lektorin im DuMont Buchverlag. Nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft absolvierte sie ihr Volontariat im Verlag Kiepenheuer & Witsch. 2009 wechselte sie als Lektorin zu DuMont, wo sie seit 2017 den Bereich der deutschsprachigen Literatur betreut.

Ausgewählte Teilnehmer*innen

Virginia Brunn
Franziska Gänsler

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