Das Resümee der Lektoren, von Daniel Beskos:
Man versucht ja, wenn die Post mit den open-mike-Einsendungen kommt, für sich ein System zu finden, wie man da jetzt eine Ordnung hineinbringt. Jeder von uns Lektoren hatte circa 100 Texte bekommen, und jeder musste für sich ein System finden, wie man die sortiert, wie man den Überblick behält über Favoriten und Halbfavoriten und Vielleichts und Kannkinder und Gehtgarnichts und Meinegüte. Unsere Sortierungssysteme waren dann, wie wir gestern festgestellt haben, ganz unterschiedlich, vom „gefühlten Sympathiestapel“ bis zur ordentlichen Excel-Tabelle mit 10-Punkte-Skala.
Aber wie findet man denn nun seine Favoriten? Das ist ja im Grunde die alte Frage, was einen guten Text ausmacht. Und wir als Verlagslektoren sind in dieser Frage allem Anschein nach die Chefbescheidwisser, na klar. Was dann – wie gestern nebenbei bemerkt wurde – schlechtenfalls dazu führt, das Lektoren oft vorgeworfen wird, sie würden den wirklich mutigen Texten im Wege stehen. Lektoren seien nämlich eigentlich Textverhinderer, so eine Art Türsteher der Literaturdisco, die willkürlich und nach dubiosen Interessen auswählen und die wahren literarischen Perlen dabei nur zu oft unter den Tisch fallen lassen. Glaube ich aber nicht. Ein guter Text findet immer seinen Weg.
Aber gerade hier beim open mike ist das Lesen ja etwas ganz Besonderes und mit der Verlagsarbeit eigentlich nicht zu vergleichen. Da waren wir uns gestern auch alle sofort einig – das fühlt sich hier sehr anders an. Denn gerade hier bietet sich uns als Auswählenden die Freiheit, abseits aller Veröffentlichungserwägungen neue Stimmen anzuhören und unkonventionelle Wege der Literatur zuzulassen. Und im Gegensatz zum normalen Verlagsbetrieb, wo man ganze Manuskripte liest, wo die Texte also viele Seiten lang Zeit haben, eine Geschichte zu entwickeln, trifft man hier ja auf Texte, die den Anspruch haben, auf 6 oder 7 Seiten zu überzeugen. Und die das auch müssen.
Nur – wie schafft man das auf so wenig Platz?
Zunächst einmal will man beim Lesen verführt werden. Man will, dass sich im Text eine Persönlichkeit zeigt. Man sucht einen Tonfall, der einen für sich einnimmt, auch dann, wenn man etwa die Perspektive des Ich-Erzählers nicht teilt. Man erwartet, dass ein Text den Anspruch, den er selbst zu Beginn setzt, am Ende auch erfüllt. Meistens findet man ja sowieso nur einen bestimmten Aspekt eines Textes gut – den Stil, das Thema, die Perspektive. Nur ganz selten kommen alle diese Punkte zusammen.
Eine unserer Leseerfahrungen in diesem Wettbewerb war es – und hier streuen wir jetzt auch mal Kritik ein – dass bei vielen Texten das Thema da ist, die Idee – aber die Sprache und der literarische Stil sind dann nicht auf gleicher Höhe, sie entsprechen dem Thema noch nicht. Wir hätten uns da oft eine bestimmte Rohheit gewünscht, mehr Kanten, mehr stilistische Reibung, um den zweifellos vorhandenen spannenden Themen auch eine sprachliche Entsprechung zu geben, weiter weg von den oft konventionellen Herangehensweisen.
Und was für Themen wurden in den über 600 eingereichten Texten verhandelt? Also: Am allermeisten wird gestorben. Am häufigsten sterben die Eltern und Großeltern, vor allem Großmütter, deren Sterben ist oft sehr traumatisch, mal stirbt auch ein Kind, der Tod ist jedenfalls allgegenwärtig. Hin und wieder ist er sogar die Hauptfigur und verliebt sich dann in ein junges Mädchen. Liebe allerdings kam gar nicht so oft vor wie man glaubt, eher das Ende von Beziehungen. Dafür findet manchmal jemand zu Gott. Einmal kommt sogar Lucky Luke vor. Viel und immer wieder ein Thema natürlich: Familie, in all ihren Ausprägungen. Oder auch: Wohin nach der Schule, nach dem Studium, wohin im Leben? Oft laufen also gelangweilte Großstadtsingles durch Großstädte. Oder gelangweilte Paare laufen am Strand entlang. Das erinnert einen dann im besten Fall an dieses Lied von Tocotronic – „Und im Leben geht’s oft her wie in einem Film von Rohmer“.
Es scheint also so zu sein, dass die Themen quer über alle Einreichungen – und das ist ja schon seit Jahren auf dem open mike als Tendenz zu beobachten – sich aus der eigenen Anschauung speisen, aus dem, was einem vertraut ist – Familie, Freunde, Beziehungen. Politische Themen oder gewagte literarische Experimente sind in der Prosa wirklich eine Ausnahme. Und auch gute Dialoge findet man leider nur selten. Huah, schon wieder Kritik. Reicht dann jetzt aber auch.
Wir wurden gestern mehrmals befragt, ob das nicht total altmodisch sei, dass hier in Zeiten von E-Book und Snippy-App noch Texte vorgelesen werden, ganz analog, und dann stimmt eine Jury ab und es gibt die Texte dann gedruckt, auf Papier? Ich denke: Pff, kann sein. Aber auch falls es irgendwann nur noch Dateien gibt und keine Bücher mehr, wird es Veranstaltungen wie diese hier noch geben – weil es immer Geschichten zu erzählen gibt und weil die Leute Geschichten hören und lesen wollen. Und darum geht’s ja, oder?
Genau deswegen freuen wir uns also, diesmal dabei gewesen zu sein bei dieser neuesten Ausgabe der Geschichtenerzählerei im Jahre 2012. Danke dafür.
Und ebenso freuen wir uns auf den neuen Literaturjahrgang 2013. Wir wünschen den Lektoren dann wieder einen heißen Lesesommer. Denn wir glauben an Kanten. Wir glauben an Rohheit. Wir glauben an eigene Stimmen. Wir glauben an aufregende Entdeckungen. Falls also heute Autorinnen und Autoren des kommenden Sommers hier sind: Auf geht’s. Ihr seid dran.