Was danach geschah … | Die Debütlesungen zum 32. open mike

Der Auftakt zum open mike fand gestern Abend im Heimathafen Neukölln traditionell mit den Debütlesungen ehemaliger Finalist:innen statt. Ruth-Maria Thomas und Frieda Paris sprachen mit ihren Lektor:innen Anna Humbert und Helge Pfannenschmidt sowie Moderatorin Marie Kaiser, wie sie von ihren open mike-Lesungen zum Debüt kamen.

Ein Nachbericht von Emma Rotermund und Marlene Münßinger

Doch bevor die Debütlesungen zum 32. open mike starten, richtet Katharina Schultens, Leiterin des Haus für Poesie, einige besorgte Worte an das Publikum. Der Berliner Kultur geht es nämlich schlecht, so schlecht, dass der open mike mit den vorgesehenen Kürzungen des Berliner Kulturetats um zehn Prozent im kommenden Jahr vor dem Aus steht. Also werdet laut gegen die Kürzungen, z.B. auf der Demo #BerlinistKultur am 13.11. vorm Brandenburger Tor oder mit dem Unterschreiben dieser Petition!

Nun aber zu den Debütlesungen, los geht es mit Frieda Paris. Sie liest heute zum ersten Mal auf der Bühne im Heimathafen, denn der 28. open mike, an dem sie mit ihrem Text »Dorn, Stäbe, Bügel« teilnahm, fand wegen der Pandemie digital statt. Den »Kachel-Jahrgang« nennt sie ihren Jahrgang. Seitdem ging es für sie steil bergauf: Dieses Jahr erschien bei der Edition Azur im Verlag Voland & Quist ihr Langgedicht NACHWASSER. Das Buch stand auf den Bestenlisten von ORF und SWR und wurde für die Shortlist des Österreichischen Buchpreises nominiert.

Mit Lyrik-Debüts haben Autor:innen es besonders schwer auf dem Buchmarkt: Die Gespräche mit Agent:innen finden meist auf den Partys statt, die im Jahr von Paris’ Auftritt flach fielen. Der Kontakt zu ihrem Lektor Helge Pfannenschmidt kam dann per Mail zustande, nachdem er als Vorjuror für den open mike ihren Text entdeckte: Drei Texte hatte er auszuwählen, Paris’ Text landete sofort auf dem Stapel. Als sie sich das erste Mal persönlich trafen, stellten sie fest, dass sie beide gern Bücher lesen, »in denen die Sprache die Protagonistin ist«. Für Debüts kann sich Pfannenschmidt besonders begeistern: »Debüts sind immer das Schönste, wenn man Bücher macht«. Man habe die meiste Freiheit und könne die Menschen mit einer neuen Stimme überraschen.

Auf die Frage, wie schwer es sei, ein Langgedicht zu veröffentlichen – auf Paris’ Buch NACHWASSER steht bewusst keine Gattungsbezeichnung, es steht erst im Buch selbst –, antwortet Pfannenschmidt, es gebe auf Leser:innenseite eine »Schwellenangst« vor der Lyrik. Aus der Sicht der Schreibenden seien diese Gattungen allerdings gar nicht gegeben: »Wir entwickeln uns hin zu einer Zeit, in der die Grenzen immer mehr verschwimmen«.

Frieda Paris’ Text ist sehr vielschichtig: Einerseits sei er streng gebaut, wie Pfannenschmidt sagt, er ist durchnummeriert in 111 Abteilungen. An anderen Stellen sei er wieder sehr »lässig«, es gibt ein Du, durch das die Leser:innen einbezogen werden. Im Text geht es viel um das Schreiben, man kann der Autorin dabei zusehen, wie sie das Gedicht verfasst. Und eine Konstante zieht sich durch den gesamten Text: die Verbeugung vor Friederike Mayröcker.

Einmal habe Frieda Paris vor einigen Jahren Friederike Mayröcker in Wien bei einer Lesung gesehen, was eine große Inspiration für ihr Schreiben war: »Ein Gedicht fiel vom Himmel wie ein Stück Obst«. Und das Gute daran, in Wien zu wohnen, sei: »Man sieht seine Idole im Kaffeehaus sitzen«. Bei ihrer Bewunderung gehe es allerdings nicht so sehr um Mayröcker als Person, sondern vielmehr darum »in ihre Sprache hineinzusteigen«.  Auch in Paris’ Sprache lässt es sich hineinsteigen: Als sie einige Passagen liest, hört man, wie sie sich die Sprache zu eigen macht, wie sie mit ihr spielt und immer wieder über sie reflektiert.

Ein »Match made in heaven« – nicht nur auf der Bühne ist die pure Harmonie zwischen Autorin und ehemaliger open mike-Finalistin Ruth-Maria Thomas und ihrer Lektorin Anna Humbert zu bemerken. Auch selbst beschreibt Humbert die Beziehung zu, die Arbeit mit und den damaligen open mike-Text »warm/sauber/satt« von Ruth-Maria Thomas als perfektes Match. 2022 war Anna Humbert Teil der Vorjury des 30. open mike und sichtete die vielen Texte: »Ich hatte mein Kind auf der rechten Seite, Ruths Text auf der linken und ich bin dann immer und immer wieder zu Ruths Text zurückgekehrt.« Beim Wettbewerb unterhielten sie sich, es machte direkt zwischen ihnen Klick.

Thomas’ Debütroman Die schönste Version handelt vom Frau-Werden und Frau-Sein in unserer Gesellschaft. Die Autorin fängt mit ihrem Buch die unterschiedlichen und vielen Facetten häuslicher und patriarchaler Gewalt ein. Schon beim Lesen der ersten 111 Seiten, die Lektorin Anna Humbert damals zugeschickt bekam, haben sie Textstellen in einer unbeschreiblichen Härte getroffen: »Aber nicht nur die Themen haben mich überzeugt, ganz besonders Ruths Sprache. Diese Leichtigkeit, von schrecklichen Dingen zu erzählen.«

Ebendiese Leichtigkeit kann Ruth-Maria Thomas auch beim Lesen aus ihrem Buch vermitteln. Dass sich viele Personen mit den beschriebenen Erfahrungen und Gedanken der Protagonistin Jella identifizieren können, ist im Saal des Heimathafens zu bemerken. Gebannt hängen die Zuhörer:innen an ihren Lippen – Schmunzeln, Kichern und stille Betroffenheit. Selbst die zwei von ihr gelesenen kurzen Textausschnitte aus dem Roman haben eine sofortige Sogwirkung auf das Publikum. So stand Die schönste Version keineswegs unbegründet auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 und auf der Shortlist des ZDF aspekte-Literaturpreis 2024: »Ich hatte damit gar nicht gerechnet, also konnte ich mich über den Platz auf der Longlist einfach nur freuen. Das war richtig schön – wie verliebt sein«, so Thomas.

Abschließend appelliert die Autorin noch einmal an alle Anwesenden, den open mike und sein Fortbestehen zu unterstützen: »Ich wurde und werde immer von Literaturmenschen inspiriert und beeinflusst, zum Beispiel wäre ich ohne diese Einflüsse niemals auf Das kunstseidene Mädchen gestoßen. Dieses Buch begleitet mich seitdem als Schatz durch mein Leben. Wir brauchen den open mike, er ist ein großer Mehrwert für die Literaturbranche!«

Den diesjährigen Kandidat:innen gibt Ruth-Maria Thomas mit, die Bühne zu lieben, den Auftritt zu genießen und einfach Spaß zu haben. Frieda Paris erinnert sich nochmals an ihre damalige Einsendung für den open mike und an das Gefühl, den Text loslassen zu müssen: »The damage is already done. Euer Text ist da, und jetzt darf er hinaus in die Welt!«

Alle Fotos: Natalia Reich

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