Die Vorjury des 32. open mike | Teil I: Roxane Dänner, Tim Holland, Chris Möller

Der open mike lädt jedes Jahr eine Reihe von Akteur:innen der Literaturbranche dazu ein, die Vorjury zu sein: Nach Einsendeschluss im Sommer werden die bis zu 600 anonymisierten Manuskripte an sie weitergereicht. Die Vorjury liest und wählt ihre Kandidat:innen aus.

Die ersten drei der fünf Vorjuror:innen des 32. open mike stellen wir euch heute vor.


Roxane Dänner

© Nikolay Popov

Worauf freuen Sie sich als Teil der Vorjury zum 32. open mike mit Blick auf das Wettbewerbswochenende am meisten?

Am meisten freue ich mich auf die Menschen und Begegnungen! Nachdem ich mich in der Auswahlphase ganz auf die Wirkung der geschriebenen Texte konzentriert habe, freue ich mich sehr darauf, sie nun auch live vorgetragen zu erleben – und die Autor*innen dahinter kennenzulernen. Und ich bin natürlich wahnsinnig gespannt auf die anderen ausgewählten Texte und meine Mitvorjuror*innen.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?

Mit einer großen literarischen Bandbreite hatte ich zwar gerechnet, aber trotzdem hat mich die Vielfalt der Texte immer wieder aufs Neue überrascht. Zum einen die Form – von eher konventionell erzählten Kurzgeschichten bis hin zu experimentelleren Texten mit visuellem Begleitmaterial. Zum anderen der Inhalt. Ich habe beispielsweise nicht damit gerechnet, dass sich Autor*innen in dieser kurzen Form dystopischen und historischen Stoffen nähern würden.

Welche Kriterien waren Ihnen bei der Auswahl der Texte besonders wichtig?

Als professionelle Leserin ist man abgebrüht, deshalb habe ich eigentlich immer das Gleiche im Blick: Es muss unbedingt der vielzitierte Funke überspringen. Die Texte müssen mich – auf welcher Ebene auch immer – so begeistern, dass ich glaube, noch nichts dergleichen gelesen zu haben. Im Idealfall habe ich nach der Lektüre das Gefühl, die Welt oder ein bestimmtes Thema mit anderen Augen zu sehen.

Welche Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet? Können Sie – vielleicht auch nach der Lektüre der open mike-Texte – Tendenzen erkennen?

In den letzten Jahren hat die Literaturlandschaft endlich Raum geschaffen für auf verschiedenste Weisen als anders markierte Autor*innen, für sogenannte diverse Stimmen und vermeintliche Nischenthemen. Jetzt muss sich zeigen, ob dieser Raum erhalten bleibt.
Von den eingereichten Texten verhandeln auffällig viele die Themen Heimat und Identität, ob es nun um konkrete Orte wie ein Elternhaus oder das Dorf der »Gastarbeiter«-Großeltern oder allgemeiner um Zugehörigkeit geht. Sicherlich kein Zufall in einer Zeit, in der viele von uns nach Halt und Orientierung suchen.

Was möchten Sie den jungen Autor:innen schon jetzt mit auf ihren Weg geben?

Unbedingt weiterzuschreiben – und auf die eigene Stimme zu vertrauen.


Roxane Dänner, geboren 1991, studierte Komparatistik und Kulturwissenschaften in Mainz und Frankfurt. Nach dem Studium arbeitete sie zunächst im Wissenschaftsbetrieb. Über ein Volontariat im Lektorat für Internationale Literatur bei Kiepenheuer & Witsch kam sie ins Verlagswesen und arbeitet nach einer Station bei Schöffling & Co. heute als Lektorin im Carl Hanser Verlag.

Ausgewählte Teilnehmer:innen
Muri Darida
Amy Wittenberg

Tim Holland

© Simon Grunert

Worauf freuen Sie sich als Teil der Vorjury zum 32. open mike mit Blick auf das Wettbewerbswochenende am meisten?

Bisher kenne ich ja nur einen Teil der Einsendungen. Jetzt bin ich sehr gespannt auf die weiteren ausgewählten Texte, und darauf, die Stimmen zu den Texten zu hören.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?

Wenn ich so viele Texte von unterschiedlichen Autor:innen vor mir habe, bin ich immer wieder über die Vielstimmigkeit überrascht: über die leisen und lauten Texte, die unterschiedlichen literarischen Verfahren, die vielfältigen Positionierungen zur Welt, die lesbar werden. Mir wird erneut bewusst: Die Welt ist ja gar nicht so, wie ich sie mir vorstelle, sie ist für andere ganz anders.

Welche Kriterien waren Ihnen bei der Auswahl der Texte besonders wichtig?

Ich frage mich immer, was will der Text? Also, kann ich lesend nachvollziehen, wo er hin will und warum? Und kann ich eine Dringlichkeit im Text spüren? Vermittelt sich mir, warum das gerade raus muss und auch, warum in genau dieser Form und keiner anderen?

Welche Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet? Können Sie – vielleicht auch nach der Lektüre der open mike-Texte – Tendenzen erkennen?

Einige Themen tauchen öfter auf: die Eltern und Großeltern, der strunzlangweilige Alltag, das eigene Erwachsenwerden vor dem Horizont einer von multiplen Krisen geschüttelten Gegenwart … Gleichzeitig finde ich zu jeder Tendenz, die ich ausmachen kann, Gegenpositionen. Zum Glück ist da Bewegung drin.

Was möchten Sie den jungen Autor:innen schon jetzt mit auf ihren Weg geben?

Autor:in sein bedeutet für mich, aufmerksam zu bleiben. Hinzuhören, hinzusehen, bei sich selbst und allem drumherum. Die besondere Empfindsamkeit ist schön, braucht Energie, kann nerven und auch mal zwischenzeitlich blockieren. Davon darf man sich aber nicht kirre machen lassen. Auch Nichtschreiben ist Teil des Schreibens.


Tim Holland, geboren 1987 in Tübingen, lebt als Lyriker, Literaturvermittler und Verleger in Berlin. Nach einer Ausbildung zum Buchhändler studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er leitet Schreibwerkstätten und konzipiert Literaturveranstaltungen, zuletzt eine Unkonferenz zum Spekulativen Schreiben, aus der die Anthologie Kollaps und HopePorn hervorging (Maro Verlag). Seit 2017 ist er Co-Verleger des hochroth Verlags München. Zuletzt erschien von ihm wir zaudern, wir brennen (Matthes & Seitz Berlin/Rohstoff), der mit dem Ver.di-Literaturpreis Berlin-Brandenburg ausgezeichnet wurde. In dem Langgedicht Trotzgesang, einer Hymne der Wellen, in poetischen Manifesten, Berichten von Heimlichtuereien und einigen Notizen zu neuen Wesen erkundet Tim Holland eine Zukunft, die möglich, wenn nicht sogar notwendig ist.

Ausgewählte Teilnehmer:innen
Theresa Gutmann
Kameliya Taneva
Liv Thastum

Chris Möller

© Marcel Wogram

Worauf freuen Sie sich als Teil der Vorjury zum 32. open mike mit Blick auf das Wettbewerbswochenende am meisten?

Den Personen direkt sagen zu können, wie sehr ich ihre Texte mochte. Als Vorjury bekommt man die Einsendungen ja alle anonymisiert, dabei hatte ich bei vielen Texten sofort große Lust, mit den Autor:innen darüber zu reden. Also Hallo sagen und Komplimente verteilen – darauf freue ich mich.

Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?

Ich war ehrlich gesagt überrascht davon, wie solide die Einsendungen waren. Ich hatte damit gerechnet, dass ich schneller aussortieren kann – aber viele Texte waren auf dem gleichen Niveau und man musste eher in die Feinheiten schauen, um sie gegeneinander abzuwägen.

Welche Kriterien waren Ihnen bei der Auswahl der Texte besonders wichtig?

Man hat ja nur den Text selbst – also sind auch alle Kriterien nur innerhalb des Textes.
Hier stellen sich Fragen wie: In welchem Verhältnis stehen Inhalt und Form? Ist der Text sich überhaupt seiner eigenen Form bewusst? Welchen Umgang findet der Text für seine Themen – ermöglicht der vielleicht auch Leser:innen neue Haltungen?
Ich fand es nicht immer ganz leicht, in dem Zusammenhang mit der Verantwortung »Nachwuchswettbewerb« umzugehen. Es gab einige Texte, die waren so voller Wagemut und Sprachverliebtheit. Man hat das Potential darin richtig greifen können – aber auch direkt gesehen, dass da noch Arbeit reingesteckt werden muss. Daneben gab es viele, die sehr gut gearbeitet waren, aber weniger innovativ. Ich habe versucht, einen Weg zu finden, beides vorkommen zu lassen in meinen Nominierungen.
Kleine Notiz am Rande: Man könnte auch einmal darüber nachdenken, wer denn eigentlich alles unter Nachwuchs fällt. Denn immerhin wusste ich eins über die Einsendenden: Sie sind unter 35. Ich glaube aber, auch mit 70 kann man noch ein Debüt in der Tasche haben und »jung« schreiben.

Welche Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet? Können Sie – vielleicht auch nach der Lektüre der open mike-Texte – Tendenzen erkennen?

Es gab ein »Genre«, das wahnsinnig oft bespielt wurde in den Einsendungen. Die erste große Trennung, meist besprochen zwischen engen Freund:innen in der WG Küche. Hier gab es viel Blick ins Private und Innerliche von Figuren – viel Realismus, wenig Abstraktion. Und auch wenig Diskurs, wenig andere Lebensentwürfe oder Liebesmodelle. Das hat mich ehrlich gesagt sehr überrascht.

Was möchten Sie den jungen Autor:innen schon jetzt mit auf ihren Weg geben?

Uff. »Lasst euch nicht entmutigen«, wahrscheinlich, ehrlicherweise. Der Literaturbetrieb ist ernüchternd. Nicht nur, was die Höhe der Vorschüsse, sondern oft auch was seine Möglichkeiten und Haltungen angeht.
Unter anderem darum ist es wichtig, Verbündete zu finden, mit denen man weiter über Inhalte und Texte reden kann. Mein zweiter Rat also, auch wenn hier beim open mike »Wettbewerb« draufsteht: Fahrt nicht die Ellenbogen aus, sondern seid supportive, weich und wach. Das tut am Ende auch den Texten gut.


Chris Möller, geboren 1988 in Meschede, studierte Philosophie und Germanistik in Kassel und anschließend Angewandte Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seit 2013 arbeitet sie als freie Veranstalterin, Kuratorin und Moderatorin an neuen Formen der Literaturpräsentation, u.a. mit dem von ihr mitgegründeten Label KASCH, und dem digitalen Magazin ­. 2019 war sie Teil der Festival-Leitung bei ULF – dem unabhängigen Lesereihen Festival und 2020 Jurymitglied für den Deutschen Buchpreis. Aktuell forscht sie zu zeitgenössischer Literaturvermittlung. Im Frühjahr 2023 erschien ihre Podcast-Reihe Zwischen zu diesem Thema.

Ausgewählte Teilnehmer:innen
Eser Aktay
Ronja Sandtner

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