Laudationes 2023

Nach zwei Tagen und 21 Texten ist es nun an der Jury, zu entscheiden, wer die 7.500 Euro Preisgeld erhalten soll. Shida Bazyar, Senthuran Varatharajah und Anja Zag Golob hatten die Qual der Wahl, genauso wie auch die taz-Publikumsjury. Hier kommen ihre Entscheidungen und die Laudationes auf die Gewinner:innen.

Laudationes 2023
Anja Zag Golob, Senthuran Varatharajah und Shida Bazyar | Foto © Natalia Reich

Senthuran Varatharajah auf Miedya Mahmod und den Text Hinter vorgehaltener Zunge schweigen wir oder Die Destinationale

Alle drei abrahamitischen Religionen teilen einen Schmerz: den ältesten Schrei; die erste Trauer: das Heimweh – nach der Vertreibung aus dem Paradies. Dieses Heimweh aber kann keine Vergangenheit beschwören: Sie darf nicht mit Nostalgie verwechselt werden, nicht mit einer vererbten Sentimentalität. Es gibt kein Zurück. Es kann kein Zurück geben. Jede Heimat ist unwiderruflich verloren, unverfügbar, nur der Klage und dem Lied, den Versen und der Strophe zugeneigt. Wenn es Heimat aber einmal geben könnte, als Erfüllung eines enttäuschten Traums, der uns durch die lange Nabelschnur Evas mitgegeben, und der uns auch von den Heiligen Schriften versprochen worden war, weil diese Schriften von dem ungeheilten Leben, von unseren offenen Wunden erzählen, dann läge Heimat, als ein Ort, aber auch als eine Zeit, vor uns: in der Ungewissheit und Zerbrechlichkeit einer Zukunft, die noch kommen muss, und deren Ankunft mit jedem Tag, mit jeder Sekunde unwahrscheinlicher erscheint.

Den Jurypreis für Lyrik des 31. open mike – Wettbewerb für junge Literatur vergeben wir an einen Text, der von diesem ältesten, fast biblischen Schrei, der von dieser Trauer erzählt: mit einem stockenden Atem geschrieben, und mit einem langen Atem gestern vorgetragen; episch in seiner Anrufung von somnambulen Bildern des Schmerzes, und rücksichtslos gegen sich selbst; ein Klagelied von beinahe alttestamentlichen Ausmaß, wie das Klagelied des Propheten Jeremias, der auch dieses Heimweh kennt. Dieses Gedicht erinnert uns daran: Was wir nicht sagen können – werden wir aufschreiben. Was wir nicht sagen können – wird geweint. Herzlichen Glückwunsch, Miedya Mahmod.

Shida Bazyar auf Kenan Kokić und den Text Parkbankgroßeltern

Familie, das ist das Gerüst, mit dem man uns in diese Welt, mit all ihren Hürden, all ihrem Grauen, schickt. Ein Gerüst, in dem wir uns Zeit unseres Lebens bewegen und zwar unabhängig davon, wie gut oder wie schlecht wir es kennen. Doch manchmal besteht dieses Gerüst aus Stützen und Pfeilern, deren Namen wir nicht kennen und die uns dennoch begleiten, belasten, mahnen. 

Wir honorieren einen Text, der mit der Abwesenheit seines eigenen Erzählers (seiner Erzählerin?) beginnt. Er war nicht dort, denn überall muss er gewesen sein. Genau, wie es sich mit den Großeltern verhält. Sie sind verstreute Punkte, denen es zu gedenken gilt, ihre Biografien sind verteilt, über die Jahrzehnte und Nationen hinweg, verstreut stehen sie am Horizont eines Familiennarrativs, in dem vor allem das jeweilige Sterben im Gedächtnis des Erzählers rumort.  

Der Text macht es seinen Lesenden damit nicht leicht – und das ist gut. Er fordert uns heraus, wir müssen folgen, obwohl der Erzähler selbst doch so wenige Punkte der Erzählung kennt – schlimmer noch, von ihnen ausgeschlossen wird. Die Erzählung aber bleibt eisern selbstbewusst, der Autor verlangt dadurch viel. Da gibt es »Rauch aus den Öfen der Gesichter, die ihre Trauer verbrannten« oder eine (noch lebende) Großmutter, die der Erzähler sich als Baum imaginiert, um sich als Nächstes zu fragen, ob es ihr Holz war, das im Ofen brannte. 

Dass es sich lohnen wird, einem solchen Erzähler zu folgen, verspricht die eigensinnige, starke Sprache, die vom ersten Satz an kein Geheimnis daraus macht, dass wir es hier vor allem mit einem Nicht-Wissen, einem Nicht-Wissen-Können und folglich einer Imagination zu tun haben, die das Nicht-da-sein zu kompensieren versucht. Der Text steht wie ein Block vor uns, seine Struktur ist eisern, sie bricht nicht. Es sei denn, der Erzähler will es. 

Ich gratuliere und bitte auf die Bühne, den Autor des wunderbaren Textes Parkbankgroßeltern, Kenan Kokić.

Anja Zag Golob auf Salvatore Calanduccia und den Text Marta Dei

Hier haben wir einen Text vor uns, den wir eigentlich eher poetisch als prosaisch gelesen haben. Wir haben auch betrachtet, wie er sich in einem selbst erschaffenen Zwischenraum kreativ und raffiniert bewegt, woraus er auch seine Dramaturgie bezieht. Das, dieses Leben des Textes in Zäsur, gelingt selten, und wenn es passiert, fällt es positiv auf.

Die starke und manchmal überraschende Verbindung von Inhalt und Form zieht in dem Text den Leser hinein und erschließt so die vielen Ebenen des Textes, der ebenso mit reiner Struktur als auch mit seiner emotionalen Tiefe überrascht. Der Autor bewegt sich innerhalb der genannten literarischen Einflüsse mit einer Souveränität, Unabhängigkeit und Überzeugung. Die Narration des Textes ist klar und prägnant, und es scheint uns, der Autor befindet sich auf einem klar umrissenen Weg zur Entwicklung seiner eigenen Autopoetik, wozu wir ihm gratulieren.

Würdest du bitte auf die Bühne kommen, Salvatore Calanduccia, und deinen Preis der Jury des 31. open mike Wettbewerb für junge Literatur entgegennehmen?

taz-Publikumsjury auf Susanne Romanowski und den Text Die Heimsuchung

Bevor wir den eigentlichen Preis vergeben, noch eine lobende Erwähnung. Wir danken Miedya Mahmod für ihren Text Hinter vorgehaltener Zunge schweigen wir oder Die Destinationale, der uns durch den ganzen Wettbewerb verfolgt hat.

Der Text, den wir für den taz-Preis ausgewählt haben, hat uns in seiner klaren Direktheit verfolgt. Eine Geschichte, die uns vom ersten Satz an in eine Welt mitnimmt, die von der Realität verrückt ist. Beinahe klaustrophobisch, gespickt mit unaufdringlichem Humor, handelt dieser Text von ganz realen Problemen. Eine skurrile Plattensymphonie, in der die Protagonistin Antworten im Internet sucht, die im Schreiben gefunden wurden. Wir verleihen den taz-Publikumspreis 2023 an Susanne Romanowski.

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