Mario Schemmerl: Am Sonnenhof

© Natalia Reich

Mario Schemmerl erzählt seine Kurzgeschichte Am Sonnenhof aus der Innensicht eines Pflegers und dessen folgenschwerer Entscheidung. Noch vor seiner Lesung erfahren wir von der Lektorin Laura Weber, die diesen Text ausgewählt hat, dass Mario Schemmerl selbst 30 Stunden die Woche als Pfleger in einem Wohnheim arbeitet. Eine Tatsache, die dem Text Erfahrungswerte hinzufügt – Mario Schemmerl weiß, wovon er erzählt.

Das, was ich sah, als ich die Tür zum neuen Bewohner Hermann Nowak geöffnet habe, wollte ich nicht wahrhaben, aber es stimmt, er hatte seine Chance während eines kleinen Zeitfensters, vor der Kaffeejause genützt und sich aufgehängt.

Der Ich-Erzähler arbeitet im Pflegeheim »Am Sonnenhof«, ein ironischer Name, denn das heitere Versprechen steht in keinem Verhältnis zu dem Grauen, was geschildert wird. Der neue Patient Herr Nowak nicht mehr leben, schon gar nicht ohne seine geliebte Frau. Das sagt er gleich zu Beginn, als er neu aufgenommen wird. Der namenlose Ich-Erzähler ist routiniert in seiner Arbeit und deutet an, bereits vieles gesehen zu haben, was Spuren hinterlassen hat. Er weiß nicht viel über Herrn Nowak. Ein paar Diagnosen und seine Suizidalität. Mit kühler Sprache wird die Abgestumpftheit des Ich-Erzählers beschrieben.

Wenn jemand nicht mehr will, dann will er nicht mehr, denke ich immer öfter. Sie liegen im Bett oder vegetieren im Aufenthaltsraum, wartend auf Essen oder Besuch, wenn sie überhaupt im Bilde ihres Wartens sind.

Doch der Text handelt nicht nur von dem Arbeitsalltag des Pflegepersonals: Er handelt von Entscheidungen. Der Ich-Erzähler entscheidet sich, eine Tür zu schließen. Und überlässt Herrn Nowak dadurch seinem Schicksal. Ein wenig wünscht man sich detailliertere Beschreibungen des Arbeitsalltag. Denn die Tristesse des Wohnheims und die tagtägliche Routine, die alles im Besitz nimmt, führen dazu, dass die Moral auf der Strecke bleibt. Es lässt den Ich-Erzähler nicht kalt, trotzdem bleiben die Gründe für seine Entscheidung, die zum Tod des Patienten führt, nur angedeutet. Dafür lebt Am Sonnenhof vom großen Tabu seines Themas: Ist es unterlassene Hilfeleistung? Oder gar ein Akt der Güte?

All die Ereignisse, die ich bereits vergessen glaubte, haben ihre Spuren hinterlassen. Kleine und große Kerben in mir. Das Haus, es fühlt sich wie ein Teil von mir an, und ich bin ein Teil von ihm geworden. Ein Tentakel, das zusieht, dass es sich nicht mit den anderen verknotet.

Der Text stellt schwierige, essentielle Fragen. Ein wenig wurde die Chance vertan, die Antworten durch mehr show, don’t tell näherzubringen. Aber Schemmerls Schilderungen geben der täglichen Auseinandersetzung mit physischen und psychischen Ausnahmezuständen eine Gestalt, die selten Gehör findet. Themen wie Pflege und Carearbeit würden eine viel größere die literarische Betrachtung verdienen. Denn es geht um ein System, mit dem wir alle irgendwann einmal in Berührung kommen werden.

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