Der Zyklus kalkstadt von Lisa James beginnt mit einem ausgestrichenen, zersplitterten Text, den die Autorin langsam und einstimmend vorträgt. Er basiert auf dem Gedicht »Die Mergelgrube« von Annette von Droste-Hülshoff, das zugleich die Themen Grube und Stein beziehungsweise Kalk des restlichen Zyklus enthält. Danach folgen zehn weitere ganz eigene Gedichte, von denen jedes dem Motiv auf eine andere Weise behandelt, einem anderen Aspekt folgend, vom Kesselkalk über Gesteinsbildung und Calciummangel bis hin zu Fossilien.
Der Reiz von James‘ Gedichten besteht darin, dass sie diesen Motivkomplex zusammenführt mit emotionalen Momenten und einer Beziehungsrealität. Es taucht ein nicht näher spezifiziertes du auf, das eine romantische Partnerfigur sein könnte, wobei auch andere Lesarten möglich sind. Da der letzte Text dieses du mit einem abguss beschreibt und die Grube, die bereits am Anfang stand, wieder zuschüttet, kann man hier auch die Geschichte einer Beziehung verstehen, bis hin zu ihrem Ende:
von dir gibt es nur eine negativform. ich gieß mir nen abguss
und begutachte ihn. betrachte die schönheit des gehäuses,
streiche über abgebrochene kanten. notiere den fundort und
das heutige datum, dann geb ich ihn ab im antiquitätenladen.
ich stoß drei spaten in den boden, fülle die grube mit schotter
und sand. pflanz ein paar bäume, die wachsen jetzt hier. […]
Der Text ist interessant gebaut und mit seiner Gegenüberstellung von Gefühl und Geologie ästhetisch sehr kohärent. Als Spuren vergangener Geschehnisse machen die Gesteine neben dem motivischen Reiz, den sie entfalten, auch thematisch viel Sinn. Vielleicht könnte es an einigen Stellen noch ein Quäntchen mehr Spannung geben durch Ausbau der thematischen Pole von Emotionen oder Beziehung, indem die Kohärenz der geologischen Bildlichkeit noch etwas aufgesprengt wird und der Text sich so angreifbarer macht. Das Konzept überzeugt aber, man kann sich sehr gut einen ganzen Lyrikband vorstellen, der noch weitere solcher Verknüpfungen durchspielt.