PROSANOVA 2023: Manifest zum Kuratieren (Aichinger-Edition)

Ein Gastbeitrag von Melek Halici

Das PROSANOVA ist ein Festival für junge, deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Es wird alle drei Jahre von einem unterschiedlichen Leitungsteam herausgegeben. Was bedeutet es, sich kollektiv auf einen Text zu beziehen, der das Motto unseres Festivals begründet? Es bedeutet: Sehr viele Gespräche, literatur-ästhetische Aushandlungsprozesse und Ideenaustausch.

  1. Ich glaube den schlechten Wörtern. Sie sind ein Bekenntnis an das Unbehagen, das ich im Balanceakt von Literaturvermittlung und Veranstaltungskonsum verspüre. Ich habe den Text von Ilse Aichinger so oft gelesen, dass ich ihn rezitieren konnte. Der Text geht dem PROSANOVA voraus. Er hat kein Verfallsdatum: seiner Form nach ist er Prosa und Lyrik und auch Essay. Seine Sprache ist eine des Misstrauens, der Abneigung und der Entfremdung im Umgang mit übergeordneten Zusammenhängen, Deutungshoheiten, mit Literatur. All das bildet den Kern meiner Beschäftigung mit einem Text, der programmatisch die Kurationsgrundlage des PROSANOVA 2023 bildet. Der Text hat eine Geschichte, die wir mit dem Festival weiterschreiben. Wie beginnt diese Geschichte?
  2. Ilse Aichinger war eine österreichisch-jüdische Schriftstellerin, die den Holocaust überlebt hat. Die Sprache, die sie zeitlebens umgeben hat, war eine, in der der deutsche Faschismus zu Hause war. Wie sich in einer Sprache verorten, die Menschen auslöscht? Eine Antwort darauf: Gar nicht. Eine andere: die Verkündung der schlechten Worte. Nur das die Verkündung keine Verkündung ist. Das wäre zu laut. Es ist ein Versprechen an die Wörter, ein Versprechen an die eigene Sprachlichkeit.
  3. Wir haben uns die schlechten Wörter als Referenzgefüge ausgesucht: In ihnen findet jede unserer Handlungen statt. Sie öffnen folgende Reibungsfläche: Der nach innen gerichtete, konzentrierte Blick annihiliert das außen so präzise, so zärtlich. Und ist das nicht auch die Essenz dessen, was mich zur Literatur zieht?
  4. Festivalkultur bedeutet Rauschkultur. Mit diesem Gedanken konnte ich mich nicht so wirklich anfreunden, anfangs. Mein Lieblingswort in unseren ersten Konzeptplena als Team war Entschleunigung. Und jetzt haben wir ein dreitägiges Festival geplant, an dem zu jeder Zeit mindestens drei Formate parallel stattfinden werden. Ich rede mir ein, dass das auch der inneren Widerspruchslogik von Aichingers Text folgt. Ein entschleunigtes Festival? War ein Ideal am Anfang.
  5. Die Ideale: Da sich unsere Künstlerische Leitung über eine Ausschreibung zusammengefunden hat, kannten wir uns anfangs untereinander nicht oder nur teilweise. Wir haben alle unterschiedliche Schwerpunkte in unserer Leser:innen-Laufbahn. Lesen ist für mich immer etwas sehr Persönliches gewesen, etwas Konsum-, also: Ideologiefreies. Das hängt damit zusammen, dass das Lesen für mich per se ein idealistischer Vorgang ist. Nicht nur suche ich die Texte nach der Verschriftlichung (also: Verwirklichung) meiner Ideale ab; ich begebe mich in einen Dialog mit einem Text.
  6. Es stimmt nicht, dass der Text sich mir offenbart: Ich, also die Leserin, offenbare mich dem Text.
  7. Die Frage nach der Danksagung scheint inzwischen komplexer als die Frage nach der Widmung.
  8. Was bedeutet dieser Satz: »Ich weiß, dass die Welt schlechter ist als ihr Name und dass deswegen auch ihr Name schlecht ist« (Schlechte Wörter, S.13)
  9. Die Sprache ist hinfällig – und fällt auch hin. So auch die Worte, die Sätze, die Satzgefüge, die Absätze, die Texte, die das Vermögen haben, zu richten. Vielleicht stimmt das auch nicht. Wenn es um das Richten ginge, wäre das Versprechen ein bloßes Verkünden. Aber der Zugriff auf das Innere ist Voraussetzung: Und deswegen ist das Richten auch immer ein Berühren.
  10. Wir sind Kompliz:innen. Wenn das der Anfang ist, wie ließe sich von diesem Punkt aus weitergehen? Wenn der Regen nicht mehr fiele, sondern stürzte.
  11. Die Richtungen, in die ich schaue.
  12. Was bedeutet das alles? Es bedeutet, dass es Tage gibt, an denen die Texte nur Worte sind, nur Buchstaben sind. Nicht mehr und nicht weniger.
  13. Ich kuratiere ein Festival mit: Stattdessen könnte ich auch Märchen schreiben. Und das ist wohl die Metaebene des Kuratierens.

Melek Halici
© Anja König

Melek Halici studiert Literarisches Schreiben, Philosophie und Theater in Hildesheim. Schreibt Texte. Zuletzt eingeladen zum Festival 4+1 ein treffen junger autorInnen in Leipzig. Sie arbeitet in der Geschäftsstelle des wortbau e.V., an der Schnittstelle von Literatur und der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Sie war Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift BELLA triste. Sie ist Teil der Künstlerischen Leitung beim PROSANOVA 2023 und zuständig für die Ressorts Kommunikation, Presse und Vermittlung.


Alle Infos zum PROSANOVA 2023 (23. – 25. Juni) findet ihr hier, Tickets gibt’s dort ebenfalls sowie das Programm im Überblick.

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