Ralph Tharayil gewann 2017 beim 25. open mike mit seiner Kurzgeschichte »Das Liebchen« einen der Hauptpreise. Vor Kurzem erschien nun sein Debütroman Nimm die Alpen weg in der edition azur. Wir haben Ralph ein paar Fragen dazu gestellt.
Vorschautext
Nimm die Alpen weg erzählt in Bildern die Geschichte einer Kindheit in der Schweiz. Da ist das namenlose Geschwisterpaar, das im Chor spricht. Da ist ein Zuhause mit Ma und Pa, die mit ihren vier Armen wie eine Gottheit erscheinen. Da ist die Geschwindigkeit der Velos, mit denen die Kinder hinaus zu ihren Spielen fahren: zur Telefonzelle, zur Müllhalde, ins Schilf. Und da kommt ein neues Kind in die Klasse und bahnt den Geschwistern einen Weg aus ihrem eigenen, inneren Gebirge.
In einer lyrisch-luziden Prosa entwickelt Ralph Tharayil in seinem Debüt eine unvergleichliche »coming of age« Geschichte, die von den Formen und Deformationen der Integrationserfahrung erzählt, und von der Sprache und den Körpern, die sich dieser Erfahrung widersetzen.
Was schoss dir durch den Kopf, als du dein Debüt zum ersten Mal in den Händen gehalten hast?
Was habe ich für ein Glück, dass es Menschen gibt, die nie aufgehört haben, an diesen Text zu glauben. Selbst dann, als alle Buchstaben leer waren und ich mir nichts mehr abringen konnte. Was für ein Glück.
Beschreibe dein Debüt in drei kurzen Sätzen.
In den Alpen sprechen zwei Geschwister mit einer Stimme, mit einer Zunge und einem Mund. Sie erzählen vom Großwerden in einem Schweizer Ort, davon, wie sie nach den Rändern ihrer Körper suchen, und danach, wo die Grenze zwischen den Ansprüchen ihrer Eltern und den Ansprüchen der Gesellschaft verlaufen. Und diese Suche nach den Grenzen ihrer Körper, dem Erzählen und den Worten selbst ist das poetische Programm des Textes.
Wie ist die Idee zu deinem ersten Buch entstanden?
Das Thema Kindheit beschäftigt mich, wie wohl viele Menschen, schon sehr lange. Auch der Text, mit dem ich 2017 den open mike gewann, handelte von einer Kindheit in der Schweiz, von Geschwistern und ihrem Verhältnis zur Welt, und ihrem Versuch, sich in und aus dieser Welt zu befreien. Die Frage, die sich mir gestellt hat, war jedoch, wie ich eine Kindheit in der Schweiz aus einer nicht-europäischen und nicht-weißen Perspektive schildern kann, ohne die beeindruckenden Texte, die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in den letzten Jahren migrantische und postmigrantische Geschichten entworfen haben, zu imitieren: Wie würde ich einen Text schreiben können, der ein neuer und anderer Beitrag ist zu diesem Kanon? Wie würde ich einen Text schreiben können, der sein ästhetisches Programm dezidiert und kompromisslos erzählt und es gleichzeitig reflektiert? Mit der Zeit merkte ich, dass das ein fast unmögliches Unterfangen ist. Nach einigem Suchen habe ich die Sprache der Alpen gefunden, oder anders: Sie hat mich gefunden, und ich habe sie nicht mehr losgelassen: Diese lakonische, fast nüchterne Sprache, die nicht aus der Erinnerung spricht, sondern aus der Evokation – aus der Beschwörung von Bildern, die im Verlauf des Textes zu Vexierbildern werden, in denen jedes Wort auch etwas Weiteres bedeuten kann: eine Sprache der ständigen Stellvertretung. Dieser Text changiert bewusst zwischen lyrischer Form und proto-prosaischem Ausdruck. Poetologisch und semantisch bewegt sich die Sprache jedoch am Rande des Sagbaren, am Rande des Zerfalls. Die Schichtung der immer gleichen sprachlichen Wendungen und Bilder, die immer wieder, leicht variiert, nicht nur den Zustand des »Plots« oder der »Story« befragen, sondern den Zustand dessen, was hinter dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden liegt, was hinter dem Selbstverständlichen der gemeinen Sprache liegt. Hinter den Redewendungen. Hinter den Beschimpfungen: hinter »Ausländer« und »Migrant«, hinter »Asylant« und »Flüchtling«. Hinter den Bezeichnungen »Milch« und »Haut« und »Haar«: um sichtbar zu machen, wo die Grenzen der sprachlichen Repräsentationsfunktion von Gesellschaft verlaufen. Um diesen Bezeichnungen auf den Grund zu gehen und das möglich zu machen, was unmöglich ist in einem Vexierbild: beide Bilder, die Ente und die Frau, gleichzeitig zu sehen. Ob es mir gelungen ist, ist erst einmal zweitrangig. Die Suche ist nicht beendet.
Wie nimmst du rückblickend die Zeit zwischen deiner Teilnahme am open mike und der Veröffentlichung deines Debüts wahr?
Ich war so produktiv wie kaum davor in meinem Leben. Ich habe so viel gelernt, wie kaum davor in meinem Leben.
Was gefällt dir am besten am Schreiben? Und was findest du am unangenehmsten?
Die Kinder in meinem Buch fragen an einer Stelle: »Wann werden Buchstaben so unendlich sein wie Zahlen?« Diesen Moment möchte ich erleben beim Schreiben: Wenn der Neuntöter sich vom Ast fallen lässt, wenn ein Licht sich heranschleicht, spät, nachmittags, und es bedeutet mir innezuhalten, und das Geschriebene zu lesen. Das ist der schönste, und der schrecklichste Moment zugleich.
Welche anderen Künstler:innen prägen dein Schreiben?
Der Maler Robert Motherwell antwortete auf die Frage, welche Künstler*innen ihn beeinflusst haben: »Ich verstehe Ihre Frage nicht. Ich bin es, der sie beeinflusst.«
Welche Songs würde man auf dem Soundtrack zu deinem Debüt finden?
Vielen Dank für deine Antworten.
Ralph Tharayil wurde 1986 als Sohn südindischer Migranten in der Schweiz geboren. Studium der Geschichte, Medien- und Literaturwissenschaft in Basel, währenddessen Arbeit als Journalist, Autor, Performer und Musiker, später als Texter in Hamburger Werbeagenturen. Er schreibt Prosa, Hörstücke und Lyrik, die in Anthologien und Zeitschriften erschien und mehrfach ausgezeichnet wurde, u.a. mit dem Preis für Prosa beim 25. open mike. Mit seinem Debütroman Nimm die Alpen weg wurde er zur Autor:innenwerkstatt des LCB eingeladen und erhielt das Alfred-Döblin-Stipendium. Ralph Tharayil lebt in Berlin.