Freitagabend, 18.11.2022: Der 30. open mike geht in eine neue Runde. Kurz vor 19.30 Uhr füllt sich der Saal des Heimathafen Neukölln. Wie immer startet das Wochenende mit den Debütlesungen, bei denen drei ehemalige Finalist:innen ihre frisch erschienenen Debüts vorstellen, aus ihnen lesen und mit ihren Verleger:innen und Lektor:innen zusammen ins Gespräch kommen. Den Abend moderiert diesmal mit Lara Sielmann eine ehemalige Blog-Redakteurin.
Es geht heute vor allem um die gemeinsame Arbeit am Text, die eigenen Erfahrungen als Teilnehmende beim open mike und um neue zukünftige Projekte, aber auch Tipps für die diesjährigen Kandidat:innen wird es geben. Wie immer ist es ein Abend, der von einer angenehmen Atmosphäre geprägt ist und immer wieder schmunzeln lässt. Eine schöne Auftaktveranstaltung, die Lust auf die nächsten zwei Tage macht.
Rudi Nuss und Hendrik Rohlf sind das erste sympathische Duo auf der Bühne. Sechs Jahre lang arbeitete der Autor an seinem Roman Die Realität kommt, der Anfang des Jahres bei Diaphanes erschien. »Ganz unspektakulär und so banal« haben sie zusammengefunden, sagen sie gleichzeitig im Chor.
»Ich beginne am Anfang, weil ich erkläre so wahnsinnig ungern«, stellt Rudi Nuss seinem Romananfang dann voran, bevor er sich ans Lesepult stellt. Der Autor fliegt geradezu durch die vertrackte, schnelle Sprache seines Debüts. Die Realiät kommt ist, wie Lara Sielmann so schön sagt, eine Wundertüte. Ein dystopischer, spielerischer Roman, der von einer verlassenen Welt erzählt, von verschiedenen virtuellen Realitäten, von Beziehungen, Liebe und Identitätsfragen.
Am Ende meint Rudi Nuss grinsend, dass er jetzt endlich neu anfangen und wirklich gute Texte schreiben kann, denn für ihn ist ein Debüt einfach der »Big Shit«. Aktuell schreibt Rudi Nuss übrigens an einem Text über männliche Schwangerschaft im Magazin des Diaphanes Verlags.
An zweiter Stelle kommt dann Katrin Pitz gemeinsam mit ihrem Lektor Dinçer Güçyeter auf die Bühne, deren Debüt-Gedichtband auch solche tage waren schon immer da im Februar 2022 im Elif Verlag erschienen ist. Dinçer Güçyeter ist auf Katrin Pitz beim Literarischen März in Darmstadt 2021 aufmerksam geworden, wo sie den renommierten Leonce-und-Lena-Preis gewann.
Er habe ihrer Lesung gefolgt und gedacht: »Die deutsche Lyrik hat ihre Barbra Streisand gefunden.« Berührt habe ihn vor allem die Leichtigkeit der Sprache, mit der Katrin Pitz »unter der Oberfläche Verborgenem« nachspürt. Vier Wochen hat es dann gedauert, bis Katrin Pitz ihm das Manuskript tatsächlich zuschickte. Vorher war noch ein anderer Verlag interessiert. Die beiden wirken entspannt und vertraut miteinander, als Dinçer Güçyeter fragt, ob sie in Zukunft weiter zusammenarbeiten wollen, antwortet Katrin Pitz sofort mit Ja.
Jene Leichtigkeit, von der Dinçer Güçyeter spricht, lässt sich dann in der Lesung erfahren. Katrin Pitz liest aus dem Zyklus »Naturwissenschaften«, mit dem sie auch beim Literarischen März vertreten war. Die Texte folgen einem lyrischen Ich, das sich mit hoher Präzision durch verschiedene Handlungs- und Gedankenvorgänge bewegt; Pflanzen werden betupft, Kartoffeln gestempelt, weiße Flecken auf den Nägeln betrachtet. Dabei entsteht ein nahezu meditativer Fluss, der die Zuhörer:innen sehr nah an das lyrische Ich heranspült. Das Wahrnehmen sowohl der Umgebung als auch des Selbst steht im Vordergrund und es ist beeindruckend, wie konsequent Katrin Pitz dieses sprachlich zu verfolgen weiß.
Mit dem dritten Duo des Abends ist die Bühnenrunde komplett: Dramatikerin und Autorin Yade Yasemin Önder, begleitet von ihrem Lektor Jan Valk (dessen Taxi ihn zum Glück noch rechtzeitig am Heimathafen ausspuckte). 2018 gewann Yade den open mike mit den ersten drei Kapiteln, die heute auch den Anfang in ihrem Roman Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron, dieses Jahr bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, bilden.
Im Gespräch verrät Jan, dass Yades Text einer dieser Texte war, »die einen sofort anknipsen und wach machen«, während Lara eine Anekdote aus ihrer Zeit als open mike-Bloggerin teilt: »Wir dachten damals nur: Hoffentlich muss ich nicht Yade machen, das ist viel zu krass.« Ein Text, heute ein Roman, der damals noch nicht wusste, was er mal sein wird – Miniaturen, Momentaufnahmen, eine komplexe Geschichte über eine toxische Mutter-Tochter-Beziehung, eine Scheidung, über Verlust und eventuellen Tod, über Essstörungen und Liebe.
Lektor Jan war literarisch sofort schockverliebt und die Zusammenarbeit zwischen Autorin und KiWi später alles andere als Zufall. »Es ist ein Buch, das vom ersten Wort an bei der Sprache bleibt«, sagt Jan. Und diese ganz besonders einnehmende Sprache beweist Yade anschließend in einer kurzen Lesung des Kapitels »17 schöne Sommer«. Die Umstellung aus der Theater-Dramaturgie zur Prosa sieht sie heute gelassen: »Ich habe akzeptiert, dass ich schreibe, wie ich schreibe.« Applaus, Applaus, denn genau darum soll es beim open mike ja auch gehen!
Apropos open mike: Auf die Frage, was die drei ehemaligen Finalist:innen aus ihrer Zeit beim open mike am meisten mitgenommen haben, sagen alle drei einstimmig nickend: »Die vielen tollen Begegnungen und ein inspirierendes Netzwerk.« Und haben sie vielleicht noch einen Tipp für die 17 Jungautor:innen, die sich heute und morgen auf die Bühne wagen?
Rudi würde gerne auf der Bühne baden, haut aber dann doch noch einen simplen Tipp raus: »Macht, was ihr wollt!« Ein schönes Schlusswort.