Aus der Textwerkstatt von Dominik Haitz

Die Wohnung im Erdgeschoss ist Hanna ein Rätsel. Aurora & Solveig steht auf dem Klingelschild, aber gesehen hat Hanna noch niemanden. Jeden Tag geht sie an der Tür vorbei, und an den fünf Pflanzentöpfen, die daneben stehen. Aus einem davon wächst ein Efeu, der Wand und Türrahmen jeden Tag höher hinaufklettert. Die Töpfe stehen in einer Pfütze aus bräunlichem Gärsaft, der, aus der Wohnung kommend, unter der Tür hindurch zu rinnen scheint.

Wenn Hanna in stillen Momenten die Treppe hinaufgeht, auf einer der Stufen pausiert und die Ohren spitzt, glaubt sie zu hören, wie sich das Efeu enger um den Türrahmen zieht, wie die anderen Pflanzen grascheln und rispeln und knaspern, sich die Blätter reichen und ihre Blüten zusammenstecken und mit ihren Wurzeln an den Tontöpfen kratzen.
Wenn sie sich umdreht, ist alles ruhig.

In leeren Nächten, wenn sie alleine in ihrer Wohnung nicht schlafen kann, legt sie ein Ohr auf den Boden und vernimmt seltsame Geräusche von unten: der leise Singsang eines Wiegenliedes, das Scharren von Ästen an Decke und Wänden, ein Gebrumme wie von einer taubengroßen Stubenfliege, die durch den Raum irrlichtert und dumpf gegen Fensterscheiben prallt.


Hanna ist fast zuhause und erkennt die Frauen, die ihr vom anderen Ende der Straße her entgegenkommen. Die beiden tragen gemeinsam einen Korb voller Äpfel, halten ihn zwischen sich wie ein Babykörbchen.
In den vergangenen Monaten hat sie die beiden ein paar Mal gesehen und gegrüßt, mal nur eine von ihnen, meistens zusammen. Sie sind Schwestern, vermutet Hanna aufgrund der Ähnlichkeit, und sie hat inzwischen gelernt, dass Solveig die etwas größere, etwas hellhäutigere, etwas sommersprossigere der beiden ist.

Zeitgleich kommen sie an der Haustür an und begrüßen sich wortlos – während Hanna höflich lächelt, strahlen die Schwestern wie von Glück durchdrungen. Hanna kann nicht anders als sie zu beneiden, diese hochgewachsenen Mädchenfrauen in den hellen Kleidern, dünn wie Gespinste.
Sie gehen hinein und bleiben vor der Tür ihrer Wohnung stehen, stellen den Korb mit Äpfeln ab. Solveig trägt einen Messingschlüssel an einen Bindfaden geknotet um ihren Hals, wie eine lange Kette, die Aurora ihr nun im Nacken öffnet.

Hanna wartet hinter den beiden und betrachtet sie aus der Nähe, betrachtet Details auf ihrer Haut: Dunkle Augenringe, auf denen sich Schlafkrümel angesammelt haben. Muttermale am Hals, aus denen Härchen wachsen, die nur im Gegenlicht zu erkennen sind. Pigmentflecken an den Oberarmen, als hätte man Porzellanscherben in die Haut eingelassen. Schorf am Ellbogen, dick und dunkel wie Baumrinde. An den Handgelenken schimmern grünliche Adern durch die milchige Haut.

Solveig schließt die Tür auf. Das Licht des Treppenhauses erhellt das Parkett, eine Kommode, ein Gemälde, das eine Obstschale zeigt. Die übrige Wohnung bleibt dunkel.
Aurora verscheucht ein paar Fruchtfliegen. Solveig hängt den Schlüssel an die Wand, dann verschwinden beide in den Zimmern. Die Tür bleibt offen, doch aus der Wohnung dringt kein Licht.
Hanna hört erst das Krachen von Äpfeln, dann ein Mampfen. Sie wendet sich ab und geht die Treppe hinauf.

Später, nach dem Abendessen, schmeckt der Wein in Hannas Glas wie Most. Eine Stubenfliege schwirrt durchs Wohnzimmer, landet auf ihren Füßen, auf ihren Unterarmen, auf ihrem Nacken und kitzelt sie. Hanna stört es nicht. Als sie einschläft, klingt das Summen in ihren Ohren wie ein Säuseln.

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