Wohnen ist – zumindest in den Großstädten – vielleicht das zentrale Streit- und Reizthema unserer Zeit. Mit ihrem Text Wohnungen eröffnet Marie Lucienne Verse den Sonntag des 28. open mike.
Wohnungen von Marie Lucienne Verse erzählt die Geschichte einer Familie anhand von sechs Wohnungen. Gleichzeitig jedoch auch die einer Stadt, eines Marktes, ja einer Zeit, die sich am Thema Wohnen aufreibt. Nicht erst seit Kurzem, aber immer lauter wird das Thema diskutiert und eignet sich damit perfekt, um sich daran entlangzuhangeln. Anknüfungspotenzial ist zumindest bei allen Stadtmenschen garantiert.
Wohnung eins kostet bald doppelt so viel wie beim Einzug. Wir hören die Nachbarn. Es hallt in ihrer Wohnung, ihren Wohnungen, die Zimmer über den Hausflur miteinander verbunden. Auf dem Hof wächst Efeu über die Mülltonnen. An der Fassade gegenüber flattern bunte Transparente. Wir lesen die Sätze, bis sie in Wörter zerfallen, wollen abwechselnd verschwinden, nur für ein paar Tage. Wir schreiben Listen mit Sachen, die mitzunehmen sind, und mit Sachen, die hierbleiben müssen, die nie weggeschmissen werden dürfen.
In einfachen Sätzen geht der Text von Wohnung zu Wohnung. Beschreibt sprachlich nüchtern, in einfachen, sich nur gelegentlich in Parataxen steigernden Sätzen das Leben in ihnen. Immer erweitert durch die Ebene der Beziehung der Familie zueinander. So erleben wir lesend, wie die Eltern mit zunehmendem Abstand vom Zentrum altern, wie die Kinder erwachsen werden und sich die beiden Generationen dabei immer weiter voneinander entfernen. Und en passant auch eine Geschichte, ein Brand etwa, der in Wohnung drei ausgebrochen sein muss, Wohnung vier bedingt. Zwischen den Wohnungen spielt eine Handlung, die uns nur in Echos erreicht.
Die Erzählung aus der Wir-Perspektive zeichnet sich durch eine große Sanftheit aus, tastet sich in kleinen Beobachtungen vorwärts. Die Intimität der wechselnden Wohnung lenkt den Fokus zwischen den Sätzen auf die zentrale Bedeutung eines Heims, eines Zuhauses für den Menschen. Wie Innen und Außen, Wohnung und Bewohner*innen zusammenhängen, sich gegenseitig bedingen. Gleichzeitig erzählt der Text aber in seinen wie nebenbei eingeflochtenen Details auch ein wenig Zeitgeschichte, Sozialgeschichte, Außenwelt. Beobachtet den Luxus-Bauboom genauso wie den Mangel an bezahlbarem Wohnraum, an Alternativen, Wahlmöglichkeiten in Anbetracht von sinkendem Einkommen.
Passend dazu sitzt die Autorin bei ihrer Lesung vor einem Hintergrund, der in seinem gedeckten Weiß kaum trister sein könnte. Allein eine kleine Ecke rechts unten lässt zumindest die Hoffnung auf Abwechslung zu, auf eine Struktur, die über lähmendes Weiß hinausgeht.
Ein ausdrucksstarker Text mit einer absolut passenden Performance, der aus seiner Zurückhaltung und den Lücken zwischen dem Erzählten wuchert. Der ein Thema transportiert, das wichtig ist, und ihm einen wohgeformten Raum gibt.