Es war wieder Erntezeit beim open mike. Gestern Abend lasen drei ehemalige Finalist*innen des Wettbewerbs aus ihren Debütwerken. Im Heimathafen Neukölln waren sie wieder auf der Bühne, auf der alles angefangen hat – wenn man so will ein kleiner Flashback zu dem Abend, an dem der Samen gesät wurde. Doch gestern waren sie nicht allein auf der Bühne wie beim Wettbewerb, sondern wurden von ihren Lektorinnen oder Verlegern begleitet.
Artur Dziuk startet als erster Debütant in den Abend, er liest aus seinem Roman Das Ting, seine dtv-Lektorin Susanne Stark begleitet ihn. Sein Text fand den Weg über eine Agentur zu ihr. Es geht um eine Start-up-Geschichte, die aus vier unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird. Das Thema ist aktuell, er erzählt von Überwachung und Selbstbestimmung. Ein Programm kontrolliert einen ständig, und wenn es etwa feststellt: Du hast zu wenig Vitamin C im Körper, dann sagt es: »Iss mal ’n Apfel!« Oder wenn es merkt, dass man oft gestresst ist, wenn man sich mit der Freundin trifft, dann rät es: »Mach Schluss!« Dziuk liest aus dem ersten Kapitel.
Es folgt Saskia Warzecha mit Matthes&Seitz-Verleger Andreas Rötzer. Sie erzählt, dass sie ihm vor ein paar Jahren am Ostersonntag eine Mail mit ihrem Manuskript schrieb, auf die er innerhalb von fünf Minuten antwortete. Auch, weil er mit dem Titel Approximanten auf Anhieb nicht viel anfangen konnte und neugierig war. Sie liest zehn Gedichte aus allen Teilen des Buches. Ihre Arbeit lässt sich nicht so konkret in der Gegenwart verorten wie die von Dziuk, es geht ihr mehr um ein Konzept von Gegenwart, nicht um die heutige Gegenwart.
Als letztes liest Demian Lienhard mit seiner FVA-Lektorin Nadya Hartmann. Sie sagt, dass sie den Text von der Agentur bekommen und dann bis 2 Uhr nachts gelesen hat, da er sie nicht mehr losließ. Es geht in Ich bin die, vor der meine Mutter mich gewarnt hat um die Schweizer Drogenszene in den 1980er und 1990er Jahren. Aus Kapitel 4 liest Lienhard, wie der Stiefvater seiner Hauptfigur Alba Selbstmord begeht – und trotzdem lacht das Publikum im Saal, denn mit dem Sound seiner Hauptfigur, mit dieser Sprache gelingt ihm etwas, das sich schwer beschreiben lässt. Tragikomik at its best. Hier wie auch bei den anderen Texten fällt auf, dass die Lektor*innen jeweils von den Texten überzeugt waren, weil die Sprache eigensinnig war, sie sich teilweise daran rieben und so in einen Sog gezogen wurden.
Nach den einzelnen Lesungen kommen nochmal alle zusammen auf die Bühne und mit Moderatorin Chris Möller ergibt sich eine Tafelrunde mit sieben Teilnehmern. Chris Möller bemerkte beim Lesen, dass der Bogen zwischen den Debüts durch Sprache gespannt wird. Die philosophische, themenbasierte Sprache bei Warzecha, die eigene Sprache von Dziuk, die die Realität abändert, und die Sprache von Lienhard, die modern scheint, obwohl der Text in den 1980ern spielt. Die Frage, ob Sprache Realität abbilden kann beziehungsweise sollte, muss jeder für sich beantworten. Nadya Hartmann erzählt noch eine kleine Anekdote aus dem Korrektorat: Sie hat den Text an eine Schweizer Korrektorin geschickt, da diese auch thematisch eingearbeitet war. Die Korrektorin wollte aber, dass Lienhard seinen Text komplett in Schweizer Deutsch umschreibt, da nur dies authentisch sei. Das ging aber natürlich nicht.
Die Abschlussfrage von Chris Möller war, aus welchem Werk man, angelehnt an die App aus Das Ting, am liebsten Ratschläge präsentiert bekommen würde. Artur Dziuk nannte die Bibel, seine Lektorin den Faust. Nadya Hartmann sagt Anne Franks Tagebuch, Demian Lienhard die Glasglocke von Sylvia Plath. Saskia Warzecha nannte ein Wörterbuch und ihr Verleger ein japanisches Haiku mit wenigen Worten. Ein heiterer Abschluss.
Nach 26 Jahren hat der Wettbewerb einige Früchte getragen und präsentiert. Büchnerpreisträger*innen, Deutsche-Buchpreis-Träger*innen. Es bleibt spannend, welche Samen dieses Jahr gesät werden.