Über mich gehen
Über mich gehen Milliarden. Über mich gehen Welten. Über mich gehen Lebende und Tote. Und doch, wenn ich ehrlich bin, sind die wenigsten Lebenden richtig lebendig, und einige der Toten auch gar nicht ganz tot. Weil ich nicht schlafen kann, zähle ich euch.
Eintausendeinhundertzwanzig,
Eintausendeinhundertneunzehn,
Eintausendeinhundertachtzehn,
Eintausendeinhundertsiebzehn…
Die Schritte, die Flüche, die ersten Küsse, die weggeworfenen Telefonnummern und die verlorenen Kassenzettel, die Schlösser, die ihr an mir aufhängt, auf die ihr mit schwarzen Stiften oder Nagelfeilen eure Namen. Als wäre ich ein Moment, an den ihr euch ketten wollt. Aber ich bleibe doch nur Metall und Stein, murmle ich. Nur weil es alle machen, werde ich davon nicht mehr Zeit und nicht weniger Raum. Ich kann das gar nicht, was ihr von mir verlangt. Doch ihr wollt mich nicht hören, und ich, ich zähle leise weiter – Eintausendeinhundertsechzehn – denn ich darf euch nicht wecken. Auch wenn ihr mich nicht schlafen lasst.
Nein, gerade weil ihr mich nicht schlafen lasst, zähle ich.
Eintausendeinhundertfünfzehn,
Eintausendeinhundertvierzehn,
Eintausendeinhundertdreizehn…
Die, die nur einmal, und die, die immer wiederkommen, von der einen auf die andere Seite der Stadt, über meine einundachtzig Meter Mitte. Die Veränderungsversuche, die Momente, in denen sich ein Fuß in meinen Leerstellen verfängt und dann der Fall. Ich zähle die Sekunden, die Jahrzehnte. Ich zähle achtzigmillionendreihundertzweiundsiebzigtausendsechshundertvierundachtzig allerletzte Umarmungen – das ist unhandlich, so eine Zahl, davon bekommt man Albträume. Manches zähle ich, der Abwechslung wegen, in Runden, immer nur bis dreihundertachtzig, dann von vorn. Dreihundertneunundsiebzig aufgebrochene Fahrradschlösser am Geländer neben den Schlossherzen, Dreihundertachtzig kurz nach 22 Uhr, dann gleich nach Mitternacht auf einen Schlag zwei, drei, vier und noch vor Sonnenaufgang bin ich schon wieder bei dreizehn.
Und dann auch das:
Eintausendeinhundertzwölf,
Eintausendeinhundertelf,
Eintausendeinhundertzehn…
Ich zähle die Momente, die so sein sollen und die, die ihr zurücknehmen wollt. Ich zähle die Motorhauben eingekeilt in meine Metallstreben, die Unfälle. Auch den, in dem euer Cousin durch die Windschutzscheibe gen Himmel flog. Immer höher und höher stieg er, an den Straßenbahnoberleitungen vorbei, und er lachte dabei, und das war sicher gut, denn er war Sekunden zuvor noch sehr wütend gewesen. Und er wollte gar nicht mehr aufhören nach oben zu fliegen, und flog dabei so weit, dass ich ihn irgendwann nicht mehr sehen konnte, als er für immer durch die Wolkendecke in den Nachthimmel zu den Sternen verschwand und nur noch das, was er getragen hatte, auf mir liegen blieb.
Eintausendeinhundertneun,
Eintausendeinhundertacht…
Ich zähle die Speiseeisflecken im Juni und die Streukiesel bei Schnee und dazwischen die Kastanienmännchen und Er-liebt-mich-nicht-Narzissenblätter aus dem Park am linken Ufer, von denen ihr so tut, als fielen sie von allein aus euren verliebten Händen. Ich zähle eure Fluchten in die andere Hälfte der Stadt und noch viel weiter fort, die Schwüre, niemals wiederzukommen, ich zähle die Transparente eurer gescheiterten Aufstände (vierhundertzwanzigtausendundelf) und die erfolgreichen Revolutionen (drei), die Stadtadern, in die ihr weiterfließt, ich zähle euer Ungenügen in Seufzern. Ich zähle die Namen, die ihr mir gebt, die neuen Schilder, die ihr dann an mir anbringt, die Baugerüste, die Fassadenarbeiter, die schwarzen Kabel, die unter meinen Bögen entlangführen und von denen ich gern wüsste, wozu sie gut sein sollen.
Eintausendeinhundertsieben,
Eintausendeinhundertsechs…
Ich zähle eure Kämpfe, eure Verluste und eure kleinen Siege, die Jahrestage und die Stiefelschritte der Grenzposten, die auf beiden Seiten ihren Dienst tun, nur kleine Rädchen sind. Ich zähle die im Kofferraum Versteckten, die als Offiziere Verkleideten oder durch den Kanal bei Nacht und Sirenenalarm und auf der neuen, der besseren Seite ist es plötzlich kalt. Oder flieht ihr doch auf die andere, die wo der kleine Park und dann ins Gebüsch, zwischen den Kastanienbäumen und ward nie mehr gesehen, erst Jahrzehnte später in Schwarz und Weiß im Museum am Kanal. Und die Kameras, die ihr dann installiert, in Kriegszeiten, Krisenzeiten, Friedenszeiten, die schweigenden Bilder, mit denen ihr glaubt, ihr könntet den Moment verlängern, ich zähle die Steine in die Linse geworfen, die, die treffen und die, die ins Aus.
Eintausendeinhundertfünf,
Eintausendeinhundertvier…
Über mich gehen die Falschen und Echten. Die Munteren und die Müden, Letztere meist allein. Aber wenn ich es ganz genau, wenn ich hier sprachlich akkurat sein will, dann muss ich sagen, dass die von euch, die am Müdesten sind, oft nur bis zu meiner Hälfte gehen. Dort beten sie zu mir, ich möge es ihnen nicht so leicht machen, als sei ich ein Moment, der sie umstimmen kann – doch ich bin wieder nur Stein und Metall.
Und gemeinsam zählen wir die Höhenzentimeter meines Geländers, die Noten, die das Klickedieklack der Schlösser spielt, über die sie steigen, und die Allerallermüdesten, die steigen über ihr eigenes Schloss dabei. Ich zähle die Erinnerungspartikel, die Tränen und die Schweißperlen in den Fäusten derer, die sich plötzlich wieder fester krallen und die dann zurück in ihr altes Leben, ihr noch warmes Bett und ab jetzt alles anders oder aber in einer Woche noch einmal und dann richtig, dann mit Mut. Und ich zähle die, deren Finger sich irgendwann lösen. Ich kenne den Abstand, aber im Sommer, wenn der Kanal niedriger steht, zähle ich trotzdem die Meter, auch wenn es nichts ändert am Resultat. Ein Krachen, ein Schlag auf die Wasseroberfläche, eine neue Zahl. Und dann die Bruchstellen, die kaputten Knochen, die Wellen, die an die Ufer, ich zähle die nassen, gurgelnden Atemzüge, die Ruderbewegungen gegen das eigene Wollen, die Augenblicke bis zu dem Moment, in dem die meisten feststellen müssen. Von hier oben bis zum Kanal ist es viel zu kurz, um zu sterben.
Unter mir treiben Leben, unter mir treiben bunte Schwärme, und wer von mir fällt, wird wiedergeboren, wer unter mir aufschlägt, versagt auch noch beim Sterben. Ich zähle die Erweckten und die Gescheiterten.
Und auch:
Eintausendeinhundertdrei,
Eintausendeinhundertzwei…
Über mich gehen Schwärme und ich zähle, ich bin bodenständig, bin Klangkörper. Ich verbinde euch alle, ich ziehe zusammen, die Lebenden und die Toten und die noch Ungeborenen, ich sage nichts dazu. Ich zähle die Zugvögel hoch über und die Fischschwärme und Kanalrundfahrten unter mir. Meine Steinblöcke, meine Querstreben, meine Schwingungen. Ich zähle bis ihr mich sprengt oder der Kanal mich abträgt oder ein großes Feuer, ein gigantischer Blitz und Donner. Und bis dahin zähle ich auch die theoretischen Möglichkeiten meiner Anfänge und meiner Enden, die ewig zunehmende Zahl der Gestern und die schwindende Zahl der noch verbleibenden Morgen: Ich zähle die Zahl der noch verbleibenden Morgen.
Eintausendeinhunderteins,
Eintausendeinhundert,
Eintausendneunundneunzig,
Eintausendachtundneunzig,
Eintausendsiebenundneunzig… [zählt immer weiter nach unten]
Denn auch wenn ich mich nicht bewege, gehe ich, anders als ihr, immer in beide Richtungen.
Ich kann nicht schlafen.
Katharina Goetze, geboren 1984 in Dresden. Nach Stationen in England, Ägypten, Laos, lebt sie seit 2015 in Wien. Studium der Journalistik und Soziologie (London) und der Modernen Nahostwissenschaften (Kairo, Oxford) und seither tätig in der Entwicklungszusammenarbeit & humanitären Hilfe. Preisträgerin beim Bundeswettbewerb Treffen junger Autoren, Lyrik in Fahrt und zeilen.lauf-Kurzgeschichten-Wettbewerb 2017. Finalistin des Mölltaler Kurzgeschichten-Wettbewerbs 2018, Longlist beim FM4-Wortlaut 2017 und Münchner Kurzgeschichtenwettbewerb 2017. Prosaveröffentlichungen in diversen Literaturzeitschriften und Anthologien, regelmäßige Lesungen in Wien. Arbeitet derzeit an ihrem ersten Roman.