Havarie
Manchmal lohnt es sich auch im Winter, ans Meer zu fahren. Zwar ist der ewige Wind dann keine Erfrischung, die Schweißperlen von der Stirn trocknet, sondern er schneidet die Augäpfel und greift an die Kehle. Das Wasser besitzt dann keine Sirenenkräfte, verführt nicht dazu, die Hitze, die sich in Bauch und Brust gestaut hat, mit ihm zu teilen. Es lockt nicht mit flattrigem Blau-Weiß, es ist grau, grau wie der Himmel, grau wie der Strand, auch der Wind ist grau. Nichts stört, keine Farben, keine Menschen, nichts stört die Seele dabei, als graue Flocken herabzurieseln auf den Spiegel des Ozeans, sich aufzulösen zwischen seinen Tropfen, still zu werden auf seinem Grund.
Vor allem aber hätte ich sicher nie jenen Fund gemacht, wenn ich in den Sommermonaten nach Heiligendamm gereist wäre und nicht Anfang Februar. Dann wäre eines der Kinder, eines von den Tausenden, die an jedem heißen Tag den Brandungsschlamm der Ostsee pflügen mit ihren Schäufelchen, auf das hölzerne Kästchen gestoßen. Vielleicht hätte es seinen Inhalt verbuddelt, wo er für Jahrtausende stumm vor sich hin gerottet wäre. So aber habe ich das Kästchen geöffnet, und die drei Holzfiguren mit nach Hause genommen. Sie schienen von Kinderhand gemacht oder von Angehörigen eines alten Südseevolks, in groben Linien geschnitzt und dabei von rätselhafter Ästhetik.
In der Nacht nach meiner Ostsee-Reise wachte ich mehrmals auf, vom fernen Rufen einer hellen Stimme. Ich dachte mir nicht viel dabei, doch als ich nachts darauf wieder wach lag, das Wort Iro im Ohr oder Higo, stand ich auf und wendete die Figuren in meinen Händen. Sie waren aus dunklem Holz, Mahagoni vielleicht. Die kleinste stellte ein vierbeiniges Tier dar, wohl einen Hund, die mittlere ein Mädchen mit geflochtenen Zöpfen und die größte einen Mann, dessen hervorstechende Merkmale seine Hosenträger waren und ein gewaltiger, bis zum Gürtel reichender Bart. Die Ehrlichkeit der Statuetten berührte mich, ihre Traurigkeit, ihr Wissen. Ich hielt sie an mein Ohr, vor allem die des Mädchens, stellte sie auf das Tischchen neben meinem Bett, und schlief wieder ein.
Ein riesiger Saal. Ein Festsaal, geschmückt mit Girlanden und Gaslichtern, gefüllt mit Gemurmel und Gläserklirren und den Klängen, die den Instrumenten der Bühnenmusiker entweichen. Die Smokings bleiben steif, egal ob ihr Träger neben dem Parkett wartet, oder ob er sich darauf dreht. Dafür flattern die Röcke und bauschen sich auf, wenn sie herumgewirbelt werden, und auch die langen Haare folgen aufgewühlt jedem Schritt.
„Hiro!“
Zwischen dem Gewirr der Beine steht ein Mädchen mit geflochtenen Zöpfen, den Blick nach unten gerichtet auf die Füße der Tanzenden. Sie reicht ihnen bis zum Ellenbogen, und um nicht einen davon ins Gesicht zu bekommen, muss auch sie immer wieder tänzelnde Bewegungen machen, obwohl ihr das Geschiebe der Erwachsenen fremd ist, obwohl sie jetzt Wichtigeres zu tun hat. „Hiro“, ruft sie wieder und fängt an zu laufen, denn sie hat etwas Weißes aufblitzen sehen zwischen den ineinander verhakten Schenkeln, läuft zwischen ihnen hindurch, so schnell ihr Drehen und Drängen es erlaubt. Endlich erreicht sie das Ende der Tanzfläche und ihr Blick ist frei, trifft wieder kurz auf das weiße Knäuel. „Hiro“, ruft das Mädchen noch einmal und folgt ihm durch die offene Tür des Saals und die Treppe hinunter, lässt das Gekicher hinter sich, das Schweigen, den Dunst von Duftwasser und Pina Colada, lässt alles hinter sich und steigt hinab.
Deck 6,steht mit blauer Farbe an die Wand gemalt. Deck 6, das Jahrmarkts-Deck, mit Karussells und Zuckerwatte, hat er erzählt. Er hat auch versprochen es ihr zu zeigen, wie auch alle anderen Decks, eines an jedem Tag ihrer Reise. Doch er hat sie abgewimmelt mit Papa muss einen alten Brief entziffern, oder heute wird getanzt. Sie beschließt, das Schiff bald zu zweit zu erkunden, mit Hiro. Sie ist sich sicher, das Tapsen seiner Pfoten auf den Metallstufen noch weiter unten gehört zu haben. Deck 5… Sie versucht sich an die Worte ihres Vaters zu erinnern… das Naturkundedeck, das Schlaraffendeck? Ein gedämpftes Kläffen dringt zu ihr, von unten. Vor dem Deck-3-Schriftzug hält sie inne und lauscht. Ein Rauschen, vielleicht von der frischen Seeluft, die die Matrosen draußen einfangen und in die unteren Decks pumpen, wie ihr Vater ihr erklärt hat. Über Deck 3 und die anderen hat er aber nichts gesagt, nur lass dich überraschen… Wieder Hiros Tapsen, wieder von unten. Da sie schon etwas außer Atem ist, nimmt sie ein paar tiefe Züge Luft – tatsächlich, sie schmeckt ein bisschen salzig –, und greift nach dem Geländer.
Die Treppe endet im Boden. Über der geöffneten Stahltür steht Deck U – Maschinendeck, auch davon hat ihr Vater nichts erzählt. Hiro kann nur den einen Weg genommen haben, sie steigt über die dicke Schwelle und folgt dem schmucklosen Gang um mehrere Ecken, dann hält sie wieder inne. Vor ihr ragt ein halber Mann aus dem Boden, blinzelt sie freundlich an. Der Weihnachtsmann, denkt sie, rote Backen, eine rote Nase und ein langer, weißer Bart. Etwas bewegt sich darin, Hiro zappelt in den Armen des Mannes, dessen untere Körperhälfte in einer offenen Luke verborgen ist, und kläfft.
„Darf ich vorstellen…“ Der alte Mann deutet auf eine Reihe riesiger Metallgebilde voller Hebel, Röhren und Ventile. Hiro lässt mit den Pfoten ein Stück Kohle über den Boden rutschen und gegen die Lackschuhe des Mädchens, doch sie starrt weiter in das Feuer, das im Bauch eines der Blechmonster lodert.
„Heute halte ich nur noch einen am Laufen, mit einem Fünftel seiner Kraft, damit ich es warm habe hier unten und hell. Aber du hättest uns mal sehen sollen!“ Er breitet die Arme aus und lässt den Blick schweifen über den Dämmer des Raums, und sein Gesicht beginnt zu glänzen wie vom Widerschein eines Infernos. „Sonnenbrillen hatten wir, und trotzdem, wenn man in einen der Öfen schaute, schaute man direkt in die Sonne. Wir waren alle nackt bis auf die Unterhose, und trotzdem mussten wir drei, vier Liter Bier trinken jeden Tag. Der Boden war ganz verkrustet vom Salz, ja ja, von unserem Schweiß.“
Das Mädchen blickt nach unten zu Hiro, der an einem weißlichen Fleck schnuppert und leckt. Vorsichtig, mit der Schuhspitze, schiebt sie ihn zur Seite.
„Und das Hügelchen da“, fährt der alte Mann fort und weist in die Ecke, „das war früher zehnmal so groß, ein Berg. Wenn du ihn bestiegen hast, musstest du in die Knie gehen, um dir nicht den Kopf zu stoßen. Und da hinten siehst du die Schaufeln, mit denen wir das Zeug ins Feuer befördert haben. Habe angefangen als einfacher Kohleschipper, aber nach zehn Jahren, da war ich Herr über zwei Dutzend Mann und das ganze Reich, das du hier siehst, ja.“ Er saugt die Lungen voll und hakt die Daumen unter die Hosenträger. Ein Lächeln schimmert durch den Bart, der jetzt ein gutes Stück über seiner Brust schwebt.
„Was ist damit?“, fragt das Mädchen und läuft zur Wand gegenüber, gefolgt von Hiro.
„Warte mal… das Pferd?“ Der alte Mann trottet hinterher. „Ja, das gehörte einem kleinen Grafen. In deinem Alter war er, ja ja. Hat es einfach auf dem Schiff vergessen, so viele Spielsachen hatte er. Wenn du magst, kannst du darauf schaukeln.“
„Und die Vitrine?“
„Ach, auch alles Fundstücke, haben die Passagiere verloren über die Jahre. Der Fächer da, mit den Brokat-Schmetterlingen, der hat seiner Mutter gehört.“
„War das mal ein Karussell?“ Das Mädchen zeigt auf ein riesiges liegendes Rad in der Mitte des Raums. Der alte Mann lacht.
„Ja tatsächlich, so etwas Ähnliches war es mal, hat sich immer fleißig gedreht. Aber nicht nur um Kinder glücklich zu machen! Wir haben die Kohle nämlich ins Feuer geschippt, Tag für Tag, damit sich das Schaufelrad drehen konnte, und drehen und drehen und die Leute übers Große Meer fahren konnten, Leute wie der kleine Graf und seine Mutter.“
„Ohaa“, macht das Mädchen und nimmt Hiro auf den Arm, der gerade ein neues Stück Kohle mit den Zähnen bearbeitet hat, „ein… extravagantes Deck! Ich muss es Papa zeigen. Er liebt alte Dinge, weißt du?“
„Ja ja, er wird staunen, dein Papa“, murmelt der alte Mann und geht wieder zu den Dampfkesseln. „Ich mache uns eine heiße Schokolade. Guatemaltekischer Kakao. Habe auch Zuckerstangen da, die sind älter als du selbst, lange gereift wie guter Klarer. Und für Bolonka finden wir auch was, das ihm besser schmeckt als Briketts. Oh, warte mal… Die Sprechanlage blinkt, kannst du sehen? Mal hören, was die da oben von uns wollen!“
Die Schokolade des alten Mannes schmeckt bitter. Wenn man ein Stück Zuckerstange darin auflöst, ist sie aber gar nicht so übel. Die Konserven halten nicht ganz, was ihre Etiketten versprechen: Fuego del Caribe, whole sun in a meal, Choucroute Royale… Immerhin, es gibt so viele verschiedene, dass man zu jeder Mahlzeit ein neues Menü zusammenstellen kann, und immer weiß der alte Mann etwas über die Herkunftsländer der Büchsen zu berichten. Während sie essen und Hiro unterm Tisch an einem Stück Kohle nagt, zeigt er auf eine Stelle des fleckigen Globus und erzählt von den Hafenkneipen, die er überlebt hat, von der Pokerpartie, bei der er eine ganze Monatsheuer verspielt, dafür ein andermal drei gewonnen hat mit einem einzigen gesegneten Royal Flush, na starowje! Er erzählt von tropischer Hitze und arktischer Finsternis, von tropischer Finsternis und arktischer Hitze, von halbblinden Tieren, die er auf dem Rücken getragen, von Frauen, die er vermisst hat und wieder vergessen, oder umgekehrt. Nach dem letzten Klaren pflegt er sich hinzulegen und zu schnarchen wie ein Grizzly. Dann nimmt sich das Mädchen eines der Bruchstücke aus Elfenbein oder Mahagoni, versucht Bildnisse zu schnitzen, auch von ihrem Vater, doch ohne Vorlage werden sie immer nur schief und fremd. Oder sie nimmt Hiro auf den Arm und steigt die Leiter hinauf. Auch der Hund scheint dort zu lauschen, allerdings nicht mit den Ohren, sondern mit dem Näschen, das er schnüffelnd an der Luke entlangwandern lässt. Seit das Schiff gesunken ist, seit der Hilferuf des Kapitäns zu ihnen nach unten gedrungen ist durch die Sprechanlage, ist sie fest verschlossen geblieben. Wenn man sie auch nur einen Spalt weit öffnet, hat der alte Mann gesagt, dann bricht das Wasser herein, das ganze Wasser, das auf den Grund des Atlantiks drückt mit dem Gewicht des Himalaya, bricht herein und lässt den Raum volllaufen wie eine Badewanne.
„Wann kommen wir hier raus?“, fragt das Mädchen.
Ja… Die Rettungstaucher seien sicher längst unterwegs, aber ein Schiff auf dem Meeresgrund, ach… eine Ameise in der Wüste.
„Wie können wir eigentlich atmen, wenn es da oben gar keine Matrosen mehr gibt, die frische Seeluft runterpumpen?“
Der Ingenieur dieses Schiffs sei ein sehr vorausschauender Mann gewesen, ja ja, er habe den Kesselraum mit allem ausgestattet, einem eigenen Erhaltungssystem.
„Was ist mit Papa?“
Darauf weiß der alte Mann nichts zu sagen, außer dass sie ihn wiedersehen werde, ganz bestimmt, irgendwo da oben. Er schlägt vor, sie könne ein bisschen auf dem Pferd des kleinen Grafen schaukeln mit Bolonka, er werde sie anstoßen und ihnen ein neues Seemannslied beibringen. Sie schüttelt den Kopf, lässt sich weiter von Hiro die Hand lecken und krault ihm den weißwolligen Hals, und weint ein bisschen in sich hinein.
Einmal stellt der alte Mann den chinesischen Paravent vor das Mädchen. „Warte mal.“ Lange starrt sie vor sich hin, lauscht dem metallischen Echo des Hämmerns, dem Schnaufen und Ächzen und Hiros Kläffen, und starrt vor sich hin.
„Jetzt darfst du“, sagt der alte Mann endlich. Er legt einen Hebel um, und eine Art Jahrmarkts-Musik erklingt. Das große liegende Rad setzt sich knirschend in Bewegung.
„Ohaa!“, ruft das Mädchen. Sie geht darauf zu und daneben her, befühlt das Holzpferd, das auf eine der Metallschaufeln montiert ist, hievt sich in den Sattel. Schneller dreht sich das Rad, das Mädchen umarmt den schlanken Hals des Pferdes und lacht und schreit und sieht den Raum um sich herum zerfließen, bis die ganze Welt darin enthalten scheint, die verwucherten Hochplateaus Neuguineas, die guatemaltekischen Steinquadertempel, die gleißenden Strände von Sansibar. Der alte Mann steht daneben und sieht ihr zu, die Daumen unter die Hosenträger gehakt, und durch den Bart, der jetzt ein gutes Stück über seiner Brust schwebt, ätzt sich ein Grinsen. Und Hiro beginnt zu knurren.
Lange noch hatte ich das Knurren des Hundes im Ohr, und es war auch das Letzte, was sie mir zu sagen hatten, die drei kleinen Holzfiguren. Wochen und Monate habe ich gewartet und gelauscht, und dann habe ich ein Feuer gemacht und sie hineingelegt, und ihre Überreste in das hölzerne Kästchen gehäuft. Ich habe mich aber dagegen entschieden ihn zu besuchen, sein Grab zu besuchen, um genau zu sein. Ich denke, ich brauche noch etwas Zeit.
Dafür bin ich wieder an die Ostsee gefahren. Manchmal lohnt es sich auch im Frühjahr, ans Meer zu fahren. Es strotzt dann vor neuem Licht, und nur wenige neugierige Blicke begleiten einen, wenn man hinausrudert. Wenn man wartet, jenseits jeder Eile, bis der Wind seewärts bläst, und ihm eine Handvoll Asche überantwortet. Man kann dann wunderbar vergessen, oder sich erinnern, oder vergeben oder lernen zu hassen, je nachdem, was die Seele gerade braucht. Und wenn man ganz still ist, kann man sie als Flocken herabrieseln hören und versinken im Blinzeln des Wassers.
Ein Paddel hat sie dann durchschlagen, die Stille, ein anderes Boot, und der Mensch, der sich damit auf mich zu bewegte. Ich bin geblieben, wo ich war, bis wir uns die Hände gaben.
Erik Wunderlich, geboren 1983 im nördlichen Schwarzwald. Lange Zeit in Berlin, seit 2018 in Freiburg im Breisgau. Studium der Physik und der Psychologie, Ausbildung zum Medizinischen Masseur. Macht Musik als Kap Alamé, konzentriert sich als Autor auf surreal gefärbte Kurzprosa. Veröffentlichungen u.a. in der Kritischen Ausgabe (2017) und in der Mosaik (2018).