Ariadnes Spucktuch
1
Es sei ihr, der begabtesten Sopranistin des Landestheaters, nicht möglich, die Liebe in einer ihrer Ausformungen angemessen darzustellen oder gar zu verkörpern, schrieb der Rezensent − obwohl ihre schauspielerische Leistung außerhalb dieser Begrenzung von präzisem Ausdruck geprägt sei. Seit drei Jahren habe er sie in etlichen Titelrollen beobachten können, daher fühle er sich befugt zusammenzufassen: Es fehle ihr schlicht an Gespür für den Ausdruck von Liebe. Dieses Defizit, obwohl begrenzt, sei insbesondere ungünstig bei einer lyrischen Sopranistin, deren Daseinsgrund in der klassischen und romantischen Oper im Ausdruck des liebenden, sich verzehrenden Geschöpfs bestünde bzw. als Projektionsfigur für liebende Männer in Form von Heldentenören usw. Den letzten Satz überflog sie nur, vor einem der Glaskästen in den heruntergekommenen gelblichen Gängen des Landestheaters stehend, und obwohl sie sich vorgenommen hatte, ihr Wohlbefinden nicht von Pressekritik abhängig zu machen, ließ sich nicht verhindern, dass die Behauptung bereits jetzt auf sie einwirkte. Nur wenn ihr zumindest ein Stück Wahrheitsgehalt inne war, konnte Kritik sie so treffen. Zudem kannte sie den Rezensenten, Kulturredakteur der örtlichen Tageszeitung, persönlich, seit er ein Porträt über sie verfasst hatte: Ein emphatischer, ernsthafter Mann, nicht alt, der selbst Musik studiert hatte (Klavier), Musik immer noch bis zur Selbstaufgabe liebte und (über diese Einschätzung war sie sich ziemlich sicher) keinem Menschen absichtlich etwas Böses gewollt hätte.
2
Während sie sich einsang, dachte sie daran, wie oft sie mit ihrem Mann, der am selben Theater arbeitete, zu Hause sich singend und scherzend über die überhöhte Vorstellung von Liebe in den Opern lustig gemacht hatte − eine Liebe, die üblicherweise mit der Selbst- oder gegenseitigen Tötung der Liebenden endet. Sie sah im Spiegel ihre unreine Haut, die Stupsnase, ihren immer weiter aufgehenden Körper. In der Probe ließ sie sich kaum anmerken, wie sehr die Bemerkung sie irritierte; zu ihrer Auffassung von Professionalität gehörte es, weitgehend unabhängig von Stimmungsausschlägen (die sie mied), von Temperaturen und anderen Äußerlichkeiten, eine gleichbleibend gute Leistung zu erbringen. Sie bevorzugte, nicht mehr als nötig auf sich aufmerksam zu machen. (Bereits wenige Minuten nach einer Vorstellung hatte sie sich jedes Mal in die ungeschminkte, unauffällige Frau verwandelt, die kaum ein Zuschauer auf der Straße erkannte.)
Ariadne auf Naxos von Richard Strauss stand auf dem Probenplan, die Szene, in der Ariadne begreift, dass sie allein auf der Insel zurückgelassen wurde. An dieser Passage berührte sie, dass Ariadne, als sie aufwacht, ihr Gedächtnis verloren zu haben scheint und erst allmählich und stückweise, mit Hilfe der Namen, ihre Erinnerung wieder zurückkommt. Der Regisseur dagegen meinte, es sollte von Anfang an Ariadnes Sehnsucht nach Liebe deutlicher hervortreten, was sie, indem sie sich auf dem staubigen Boden der Probebühne wand, versuchte umzusetzen.
Am Probenende zeigte er sich zwar erfreut, wie schnell man vorangekommen sei, trotzdem merkte sie, dass sie nicht exakt den Ausdruck getroffen hatte, den der Regisseur sich wünschte.
3
Nachdem sie zwei befreundete Orchestermusiker vertröstet hatte, die in naher Zukunft ihr erstes Kind erwarteten und zusammen mit ihr zu Mittag essen wollten, bestellte sie in einem der belebten Cafés am Alten Marktplatz einen Tee. Den abgeschiedenen Platz am Fenster fand sie ideal. Denn hätte sie jetzt mit einem Fremden, Halbfremden oder Vertrauten sprechen sollen − es wäre ihr nichts Unverfängliches zu sagen eingefallen.
Mittlerweile empfand sie die Kritik als eine Nachricht, die man ihr überbracht hatte. Die Präzision der Nachricht war es, die sie überzeugte. Wovon?
Dann beruhigte sie sich, dass der Rezensent nur von ihrer Ausdrucksfähigkeit (nicht von der Qualität ihrer Gefühle) gesprochen hatte. Um sicherzugehen, dass sie sich in Liebesdingen nicht auffällig verhielte, fing sie an, die an dem Café vorüberlaufenden Passanten zu beobachten. Sie versuchte zu erkennen, wie sich Liebe oder liebesähnliche Zustände in ihren Bewegungen, Körperhaltungen und Gesten ausdrückten.
4
Nach einer halben Stunde stand sie auf und zahlte an der Theke. Mittlerweile bereute sie, nicht mit den beiden Orchestermusikern in die Kantine gegangen zu sein. In einer Gasse, die von schiefen, verzogenen Häuschen gesäumt war, kam sie an einer barocken Kirche vorbei, deren Tür halboffen stand und aus der leise Orgeltöne zogen.
Als sie die kleine Kirche betrat, hörte die Orgelmusik auf. Sie setzte sich dennoch in eine der hinteren Bänke, unter die Empore, aber der Organist hatte sein Spiel beendet − oder war das Stück von einer CD abgespielt worden, die nun zu Ende war?
Die Einrichtung ihrer Wohnung wirkte provisorisch, obwohl sie seit fünf Jahren hier lebten: eine nackte Glühbirne über der Garderobe, in den Durchgängen zwischen den Zimmern hingen keine Türen und in der ganzen Wohnung stand kein Schreibtisch. Auf dem Parkettboden im Wohnzimmer lag das Spucktuch ihres Kindes − es erinnerte sie daran, wie sehr ihre Stimme sich nach der Schwangerschaft verbessert hatte; obwohl andere Sängerinnen sie davor gewarnt hatten, etliche sogar darauf verzichteten, ein Kind zu bekommen − aus Angst, der Hormonwechsel könnte der Stimme schaden. Vor dem Klavier stehend erzeugte sie immer höhere und lautere Töne. Dabei kam ihr wieder die Frage ein, warum beide − der Regisseur und der Rezensent − ausgerechnet ihren Ausdruck von Liebe bemängelt hatten. Sie dachte an ihren Mann, an ihr Kind; und es fiel ihr auf, dass sie im Gegensatz zu den meisten ihrer Kolleginnen eine weitgehend gleichmäßige und befriedigende Beziehung seit Jahren führte − doch darin konnte sie keinen Mangel erkennen.
Eine dreiviertel Stunde mühte sie sich auf solche Weise ab, dann gab sie auf. Sie beschloss, ihre Stimme für den Rest des Nachmittags zu schonen und mit einer Wärmflasche und ihrer favorisierten amerikanischen Sitcom zu entspannen. Dabei freute sie sich auf den Zeitpunkt, wenn ihr Sohn von der Tagesmutter zurückgebracht und ihr übergeben werden würde.
5
Als sie aber gegen sechzehn Uhr den schlafenden Leon von der Tagesmutter übernahm, schien ihr diese Handlung bedeutungslos. Den Moment nach einem langen Tag, wenn sie ihr Kind wieder in den Armen hielt, schätzte sie sonst sehr. Sie verabschiedete die Tagesmutter. Mit dem Eindruck, ein Geschenk, das ihr zustand, nicht erhalten zu haben, legte sie das Kind in sein Bett.
Am frühen Abend hatte sie bereits mehrmals das Schlafzimmer betreten, in dem Leon lag. Jedes Mal hoffte sie, der Anblick des schlafenden Kindes löse einen Gefühlseindruck in ihr aus, einen Anflug von Zärtlichkeit oder Nachklang der tiefen Ruhe und Geborgenheit, die bei Kindern vorkommt; es geschah nichts.
Während sie eine Zwischenmahlzeit zu sich nahm, überlegte sie, ob es ihr wirklich wichtig wäre, etwas zu empfinden oder ob es ihr genügte, Leon fürsorglich zu pflegen, zu füttern, ihm einen warmen Schlafplatz zu geben und schöne Kleider anzuziehen.
Gegen Ende der Brotzeit, sagt sie, habe sie sich entschieden, dass es ihr nicht wichtig sei. Danach habe sie das Kind, da es aufwachte, genommen und an die Brust gelegt.
Ann Kathrin Ast, 1986 in Speyer geboren, lebt in Stuttgart. Violoncellostudium an der Musikhochschule Mannheim und Master in Speech Communication and Rhetoric an der Universität Regensburg. Sie schreibt Lyrik, Prosa und Szenisches, arbeitet auch als Literaturvermittlerin für das Lyrikkabinett München. Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften. 2017 bekam sie das Hilde Zach-Literaturstipendium, Arbeitsstipendien der österreichischen Bundesregierung und des Landes Tirol sowie ein Aufenthaltsstipendium für das Künstlerhaus Edenkoben.