»Some say Love«
(Ein Romanauszug)
Das traurigste Video der Welt ist die Trauerfeier für Robert Enke. Nachdem der ehemalige deutsche Nationaltorhüter sich am 10. November 2009 per Schienensuizid das Leben nahm, fand am 15. November eine große Abschiedsfeier im Stadion des Fußballclubs Hannover 96 statt. Die nannte man damals noch AWD Arena.
Die Zeremonie dauert etwa eine Stunde und ist für Barbara so etwas wie eine Trauermeditation. Es ist schon nach Mitternacht und daher viel zu spät, um jemanden anzurufen. Einmal war Barbara derart verzweifelt, dass sie um 22.30 Uhr nochmal ihr Glück versucht hat, aber natürlich wütend abgewiesen wurde. In solchen Momenten kann sie dann nur dasitzen und versuchen, das allumfassende Nichts um sie herum auszuhalten. Hin und wieder blättert sie dann in einem ihrer Notizbücher und schaut sich die Aufzeichnungen vergangener Interviews an. Das ist natürlich nicht das Gleiche wie die tatsächliche Unterhaltung mit einem Fremden. Die Möglichkeit oder vielleicht sogar das Versprechen auf eine Geschichte, ein Schicksal, einen interessanten Gedanken, irgendetwas, das sich dann wie ein dekorativer Schleier über die Leere in Barbaras Leben legen kann.
Und so kommt es mitunter vor, dass Barbara an manchen Tagen über mehrere Stunden hinweg regungslos an ihrem Küchentisch sitzt und nichts macht, außer zu starren. Was von außen vielleicht aussehen mag wie eine Konzentrationsübung, ist Barbaras Stand-By Modus. Barbara ist ein Eingabe-/Ausgabesystem das nur funktioniert, wenn man es mit Informationen füttert. Und wenn es gerade kein Futter gibt, dann ist sie weder traurig, noch ist sie deprimiert. Sie ist dann einfach nur da. Sie weiß, dass nicht alle Menschen gleich sind. Manche haben etwas zu erzählen und andere Menschen warten eben darauf, dass man ihnen etwas erzählt. Und Barbara wartet. Sie sitzt und starrt manchmal stundenlang geradeaus, ohne dabei auf eine Erleuchtung zu warten oder gezielt nach Antworten auf die großen Fragen des Lebens zu suchen. Barbara starrt und schweigt. Barbara kommt klar.
Und dann gibt es Momente wie diesen, in denen Barbaras innerer Wartebalken einhundert Prozent erreicht hat und sie einfach handeln muss, um etwas zu erfahren, etwas zu fühlen, etwas verarbeiten zu können. Das Video ist bereits zur Hälfte durchgelaufen, aber Barbara weiß ohnehin, was als nächstes passieren wird. Sie hat die Aufzeichnung mindestens schon ein Dutzend Mal gesehen, und jedes Mal lässt es sie in eine Welt eintauchen, in der sie auf nichts anderes zurückgeworfen wird, als auf eine zutiefst befriedigende Traurigkeit. Alles ist perfekt. Die weißen Blumengestecke, das Streicher-Ensemble, Stücke in D-Moll, dazu Frühlingswetter im November, die überwältigend deprimierende Präsenz des Ex-Bundespräsidenten Christian Wulff, die stehenden Ovationen für die Witwe Teresa Enke, diese Haltung, diese Courage, der tröstende Halt von Marco Villa, dem besten Freund Robert Enkes, das prägende Mantra der Stunde, formuliert durch den damaligen DFB Präsidenten Theo Zwanziger – »Fußball ist nicht alles« – Zwischenapplaus, immer wieder Zwischenapplaus und dann der bewegende Ausmarsch zu »Some say love« von LeAnn Rimes, gespielt auf Wunsch der Witwe, die Übersetzung der letzten Strophe gefühlvoll vorgetragen von einem sichtlich bewegten Reinhold Beckmann, gefolgt von einer schmetternden Akustikversion von »You’ll never walk alone«, alles untermalt von hunderttausenden von Tränen, Politikertränen, Funktionärstränen, Sportlertränen, Bundesligatränen, Fantränen, Nationalspielertränen, Ex-Profitränen, hochoffizielle Bundestränen sind das, ein Meer von trotzigen, traurigen Männertränen in dem Barbara ganz langsam versinkt. Ein Meer, das die Leere verschwinden lässt und durch eine tiefe Traurigkeit ersetzt. Ein Meer, das sie lächeln lässt.
Rainer Holl, 1984 geboren, ist Autor und Poetry Slammer. Er studierte Angewandte Literatur- und Kulturwissenschaften an der TU Dortmund. Seit 2009 tritt er regelmäßig bei Poetry Slams und Lesebühnen auf. Er ist außerdem als Moderator, Workshopleiter und Literaturvermittler tätig. 2010 gewann er den Dortmunder LesArt-Preis für junge Literatur und 2016 den Martha-Saalfeld-Förderpreis für Literatur des Landes Rheinland-Pfalz. Rainer Holl lebt in Leipzig und arbeitet derzeit an seinem ersten Roman.