Wie entsteht eigentlich ein literarischer Text? Welche Gedanken gehen dem Autor beim Schreiben durch den Kopf, wie konstruiert man seine Figuren, die Handlung und die Erzählstimme? Hilde Drexlers Text „Zinnentanz“ erlaubt den Blick in die Gedanken eines Schreibenden.
Am Anfang steht ein Herbstwald, ein Bild, den das sprechende Ich sprachlich hin- und herwendet, bis es mit der Syntax zufrieden ist. Zum Bild kommen Figuren, die einem Märchen entsprungen zu sein scheinen: ein Wunderhofkönig, ein Schelm und ein junges Mädchen, welches das schreibende Ich intuitiv Jorinde, aber – zu Gunsten des Shakespeare-Verweises – dann doch lieber Imogen nennt. Textstrategien werden durchdacht: Wie viel Intertextualität verträgt der Text und macht sich ein unzuverlässiger Erzähler besser als ein zuverlässiger? Und wie lässt sich dieser Text überhaupt in der Gegenwartsliteratur verorten? Das Ich spielt verschiedene Szenarien mit ihren Figuren durch.
Ort unbestimmt und Zeit unbestimmt und ganz auf Märchen, keine politische Aktualität, kein moralischer Fingerzeig, keine Körperflüssigkeiten, also keine Literatur, KEI-NE LI-TE-RA-TUR, Fantasy, Etikett: Fantasy … keine Literatur, tz, ganz ohne Drachen … oder noch schlimmer: gar keine Schublade und nicht zu veröffentlichen, ach verdammt!
Der hohe Ton, den die in Hilde Drexlers Text entstehende Erzählung anschlägt, steht im Kontrast zu der Umgangssprachlichkeit der Autorenkommentierungen, die vom konstatierenden „okay, was haben wir jetzt schon“ über ein selbst anmahnendes „Okay, Konzentration!“ oder „scheiße, Wortwiederholung“ reicht und in der schließlichen Verwerfung aller Überlegungen am Ende gipfelt: „ach Scheiß drauf!“.
Hilde Drexler trägt ihren Text sicher und selbstbewusst vor. Das Lesetempo nimmt stetig zu, genau wie es dem Format Gedankenrede entspricht. Die Produktion des Textes, dem das Publikum beiwohnt, nimmt zusehens Fahrt auf und verselbstständigt sich, Drexlers Worte überschlagen sich fast. „Zinnentanz“ fällt in jedem Fall stilistisch auf und ist ein großartiger Auftakt für den open mike 2015.
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