Die Raucherecke auf dem Schulhof, die Hochhaussiedlung und die Pommesbude in der Citystraße, das ist die Welt der Figuren bei Nora Linnemann. Schon tausendmal gehört? Nein, denn die Autorin macht etwas völlig Neues aus diesem Milieu der breitbeinig über trostlose Spielplätze checkenden Jungs. Und das liegt vor allem an Jackie, dem Mädchen mit dem kindlich-knochigen Körper „ohne Arsch und Titten“, Jackie, die kifft und mit rauchiger Stimme verruchte Lieder singt, für Ole, der ihr verfallen ist, „Jackie, cool as fuck“. Aus seiner Perspektive und zugleich aus der Distanz erleben wir jugendliches Verknalltsein, das erste Mal, die Konfrontation mit den Freunden, die in Jackie nur die hässliche „Großfresse“ sehen.
Linnemann zeigt Gespür für präzise Charakteristika und Details, sei es das Deo gegen den Rauchgeruch oder den Stil der SMS – „ja, nein, vielleicht, geschmückt von Smileys oder Herzen oder Mündern in Grellrot“. Ihre Sprache ist rhythmisch, „Zickzack-Style“, Halbsätze und Ellipsen gespickt mit dem Streetslang ihrer Figuren. Und sie liest, wie ihre Protagonistin singt, „fest und klar“ und „cool as fuck“, man ist ganz Ole, wenn man ihr zuhört. „Es ist ein sehr toller Text und er hat ein sau starkes Ende“, so Lektor Jörg Sundermeier. Toller Text, absolut, das Ende wohl eher sau ärgerlich, denn auf die Klischeefanfare hätte ich gern verzichtet. Schade.
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Leseprobe: Nora Linnemann; Jackie-Olé
Jackie mit dem Kinderkörper. Baggypants, zusammengeschnürt unter der Hüfte, Kapuze über wildem Haar. Auf dem Rasen sitzt sie, hinter der Sporthalle, Do I Blow You Away, singt sie, und Ole nickt mit dem Kopf, leicht nur, offbeat, nickt und nickt und nickt. Jackie reißt den Mund weit auf bei den hohen Tönen, Großfresse wird sie von manchen genannt, klein, aber laut, lauter, am lautesten. Dann bricht sie ab, klemmt die krumme Zigarette zwischen ihre Lippen, inhaliert und stößt den Rauch aus, schnell, spitzlippig, mit gesenktem Blick. Ob ihm schwindelig ist vom Gras oder dem Nicken oder davon, dass er ununterbrochen auf ihren Mund starrt, er könnte es nicht sagen. Sie nimmt zwei Züge, reicht an ihn zurück, entknotet ihre Beine aus dem Schneidersitz, rollt sich auf den Bauch, dabei rutscht der Pullover, ein Stückchen nur, entblößt einen Streifen Haut über der Hose, ein winziges rotes Dreieck. Dass sie Tangas trägt, er hat es sich vorgestellt, obwohl es nicht zu ihr passt, dem knochigen Körper und der kratzigen Stimme, die mal aus der Tiefe kommt, mal weit oben in ihrem Hals sitzt, wie bei einem Jungen im Stimmbruch. Nur beim Singen wandert die Stimme nicht, beim Singen ist sie fest und klar, Jackie könnte ein Star werden mit ihrer Stimme, das sagen alle. Aber sie lacht nur darüber, mein Vater, brüllt sie, der killt mich. Ole möchte seine Hand unter den roten Spitzenstoff schieben, das Dreieck abheben von der Haut, mit den Fingerspitzen weiter wandern, die herausstehenden Wirbelknochen entlangfahren, er will sich auf sie legen, schwer und hart, Bauch auf Rücken, und sie unter sich bergen, wie ein Schildkrötenpanzer, Do I Blow You Away. Aber er hockt nur da, hinter der Sporthalle, starrt und raucht und nickt.