Aus der Werkstatt von Jonathan A. Rose: Die Rückkehr

Die Rückkehr

Mit Dank an Sir Arthur Conan Doyle für Sherlock Holmes und seinen Watson

Aus dem Notizbuch von John H. Watson, datiert „im Juni 1893“

 

Vor ein paar Wochen teilte ich der Öffentlichkeit mit zweijähriger Verspätung die Wahrheit über Professor Moriarty mit. Bis dahin hatte ich mir fest geschworen, dass dieses letzte Abenteuer meines Freundes Sherlock Holmes nicht durch meine Feder zu Papier gebracht werden würde. Es erschien mir unerträglich, noch einmal – und sei es nur als Chronist und im Geiste – an die Reichenbachfälle zurückzukehren. Auch jetzt noch, nachdem die Jahre den schmerzlichen Verlust von Holmes gemildert haben, war die Niederschrift der Ereignisse ein qualvolles Erlebnis. Doch wie hätte ich zuschauen können, während das Andenken von Holmes geschmäht wurde? Jetzt, da ich Das letzte Problem veröffentlicht habe, tröste ich mich, indem ich mir vorstelle, was Holmes wohl zu meiner Darstellung gesagt hätte. Ich habe über die Jahre für meinen Stil und meine Sicht auf die Dinge so manchen Spott von ihm einstecken müssen. Was würde ich darum geben, ihn jetzt zu hören!

Seitdem ich meine Notizen hervorholte, spukt er mir oft im Kopf herum. Wie immer denke ich dann an die Kriminalfälle und wie Holmes sie mit seinem herausragenden Intellekt löste, immer einen Schritt voraus. Aber vielmehr noch denke ich daran, was für ein guter Freund er mir war.

April 1891. Ich war Holmes gefolgt. Wie immer. Und wie immer war ich auf alles gefasst gewesen, doch nicht darauf, dass ich allein zurück nach England reisen würde. Der Wind blies mir unerbittlich entgegen, meine Augen tränten, und doch hielt ich meinen Blick stur geradeaus, Dover entgegen. Eine Weile stand ich am Heck und sah zu, wie der Kontinent immer kleiner wurde. Die Wasserstrudel an der Schiffsschraube verschwammen vor meinen Augen, und ich erinnerte mich an die tosenden Wasser der Reichenbachfälle. Und an Holmes, wie er, an den Fels gelehnt, die Arme lässig verschränkt, die Wasserfälle hinuntergeschaut hatte. Es war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte.

In London gingen die Menschen ihrer Wege, ahnungslos um den Verlust, den sie erlitten hatten. Die Stadt lebte weiter und riss mich mit sich. Von der Victoria Station nahm ich eine Droschke nach Paddington, in Erwartung der tröstenden Gegenwart meiner Frau. Seit meiner Heirat hatte ich so manches Mal an meine Zeit in der Baker Street gedacht. Ich hatte Holmes vermisst, ebenso wie den Nervenkitzel, der Teil des Lebens mit ihm war. Und doch, ein richtiges Zuhause, wie ich es mit Mary teilte, hatten Holmes und ich nie gehabt. Zu meinem Kummer erwartete mich nicht meine Frau, sondern eine Nachricht, dass ihre Rückkehr nach London sich verzögere und ich sie nicht vor dem Abend erwarten solle. Ehe ich recht nachsinnen konnte, saß ich schon in einer Droschke Richtung Baker Street. Mit wem, wenn nicht mit Mrs. Hudson hätte ich über das Erlebte sprechen können? Und doch gab es wohl in ganz London keinen Ort, der mir den Verlust meines Freundes schmerzlicher deutlich machen konnte als unsere alte Wohnung. Fast hätte ich den Kutscher zur Umkehr gebeten, doch der Gedanke an die Stille daheim hielt mich davon ab.

Mrs. Hudson öffnete mir. Nun, da ich vor ihr stand – die Treppen zu unseren Räumen fast eine Einladung – brachte ich kein Wort hervor. Die Nachricht von Sherlock Holmes‘ Tod war mir nach England vorausgeeilt. Ich suchte nach den richtigen Worten, die nicht kommen wollten. Die Stille zwischen uns wurde unbehaglich, bevor Mrs. Hudson sie schließlich unterbrach und mir mit tränengedämpfter Stimme berichtete, dass es ihr unmöglich war, Holmes‘ Räume zu betreten. Seit die schreckliche Nachricht eingetroffen war, hatte sie sie nicht einmal lüften können. Als ich ihr fragte, ob ich nach dem Rechten sehen und die Fenster öffnen solle, nickte sie dankbar. So aufrichtig mein Angebot auch gewesen war, ich konnte nicht verhindern, dass ich die Stufen mit Zögern erklomm. Jeder Schritt fiel mir schwerer, als trüge ich eine Kiepe voll Kohlen auf dem Rücken.

Der Anblick unseres Wohnzimmers ließ mich auf der Schwelle zögern. Alles war wie immer. Es hätte mich nicht gewundert, wenn Holmes sich nach meinem Eintreten auf der Couch aufgesetzt hätte, bekleidet mit seinem Morgenmantel und die Pfeife in der Hand. Wie sehr hätte ich diesen Anblick begrüßt, aber zu einem solchen Wunder war nicht einmal Sherlock Holmes in der Lage.

Als ich das Zimmer durchschritt, wurde ich gewahr, dass es mir trotz aller Vertrautheit fremd war. Wir waren nur einige Tage fortgewesen, und doch schien es verwaist. Ich hatte unser Wohnzimmer in all der Zeit, die ich mit Holmes hier gelebt hatte, nicht einmal so aufgeräumt gesehen. Hätte mir Mrs. Hudson nicht soeben beteuert, dass sie die Räume nicht betreten hatte, ich hätte vermutet, dass sie diejenige gewesen war, die das Zimmer in so untypischer Weise hinterlassen hatte. Holmes‘ Papiere – die wenigen, die ich erblicken konnte – lagen in ordentlichen Stapeln auf meinem alten Schreibtisch. Keinerlei Experimente oder deren Überreste waren auf seinem Tisch zu sehen. Stattdessen lag dort eine Notiz mit den Worten Sigerson und Tibet in Holmes‘ unverkennbarer Schrift. Ich erinnere mich nur deshalb so genau an die Wörter, weil mir vor einigen Wochen Sigersons Buch über seine Tibetreise in die Hände gefallen ist. Es bleibt mir ein Rätsel, wie Holmes bereits vor dessen Erscheinen davon gewusst haben konnte. Damals schenkte ich der Notiz wenig Beachtung, denn mir fiel auf, dass das Zimmer nicht lediglich aufgeräumt war. Es fehlten vielmehr auch Holmes‘ persönliche Gegenstände. Seine Pfeifen waren fort, und das Bild von Irene Adler stand nicht mehr auf dem Kaminsims. Mein Blick streifte den persischen Pantoffel, der einsam auf dem Sims verweilte. Ein Päckchen Tabak lugte heraus. Verwundert griff ich danach. Zum Vorschein kam nicht wie erwartet Holmes‘ geliebter Schiffstabak, sondern ein kleines Paket Arcadia, den ich seit meiner Heirat zu rauchen pflegte. Fast ließ ich das Päckchen fallen, als mir bewusst wurde, dass Holmes meinen Besuch in der Baker Street erwartet hatte. Er war nicht davon ausgegangen, mit mir nach London zurückzukehren. Ich hielt mich am Kaminsims fest und blickte auf die kalte Asche hinunter, während ich versuchte, gegen die Enge in meiner Kehle anzuatmen. Mein Blick verschwamm.

Ich weiß nicht, wie lange ich in meinem alten Sessel saß. Es mussten einige Pfeifenlängen gewesen sein, denn eine zarte graue Wolke verteilte sich im Zimmer. Eingehüllt im Rauch schienen die Ereignisse der letzten Tage fern. Mein Blick fiel auf Holmes‘ albernen Pantoffel. Dieses verdammte Schlitzohr. Nur er war in der Lage, einen letzten Gruß zu hinterlassen, der mich zum Verweilen einlud, während er mir gleichzeitig zeigte, dass ich genau dies nicht tun sollte. Ich ging zum Fenster und entließ den Rauch nach draußen. Unten auf der Straße hörte ich die Kutschen über das Pflaster rumpeln. Die Stadt hielt nicht inne, und so sehr ich es auch wollte, war mir doch klar, dass auch ich es nicht konnte. Mary würde mittlerweile zu Hause eingetroffen sein. Meine Schritte waren etwas leichter, als ich schließlich die Treppen hinunterstieg. Ich sparte mir die Beteuerung, Mrs. Hudson bald zu besuchen. Auf der Straße holte ich tief Luft und schritt schnell in Richtung Marylebone Road auf der Suche nach einer Droschke. Als sie anfuhr, erhaschte ich einen letzten Blick auf die dunklen Fenster des leeren Hauses. Dann flogen draußen die Lichter des nächtlichen Londons vorbei, während in meiner Manteltasche meine Finger sacht über das Tabakpäckchen strichen.

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