Lektor*innen, die: sechs Personen, deren Job es ist, Bücher zu »machen«. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Verlagen oder sind selbst Verleger*innen, sie kommen aus der Schweiz, Berlin, Salzburg, München oder Frankfurt, und arbeiten seit Jahren mit Autor*innen an deren Manuskripten, begleiten sie auf dem Weg zum fertigen Buch, sind Ratgeber und manchmal auch Freund*in, immer aber »erste*r Leser*in«, und das vor allem kritisch im besten Sinne des Wortes.
Der open mike lädt jedes Jahr eine Reihe von Lektor*innen aus renommierten Verlagen dazu ein, die Vorjury zu sein: Nach Einsendeschluss im Sommer werden die bis zu 600 anonymisierten Manuskripte an die Lektor*innen weitergereicht. Sie lesen und wählen ihre Kandidat*innen aus.
Die ersten drei der sechs Lektor*innen des 27. open mike haben wir euch hier vorgestellt. Nun folgen die weiteren drei.
Nadya Hartmann
Welche Kriterien haben Sie an die open mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag heranziehen?
Ob ich nun für den Verlag oder den open mike lese: Ein Text muss sprachlich und inhaltlich überzeugen, und natürlich gibt es eine ganze Palette an Kriterien, die literarische Qualität eines Textes zu bewerten. Aber es ist eben auch kein Abhaken einer Checkliste, Stil – passt, Dramaturgie – sitzt, Figuren – läuft, macht: Literatur. So pedantisch bestimmte Bereiche der Lektoratsarbeit auch sein mögen (kein Geheimnis), so spannend und vielgestaltig ist der Anfang, ohne da jetzt gleich Hesse zu zitieren. Damit der Funke überspringt, muss ein Text mich von den Schienen heben, sich etwas öffnen, eine Reaktion eingefordert, ein Haken geschlagen, Erwartungen gegen den Strich gebürstet werden. Deswegen fällt die Wahl nicht immer auf die schon »perfekten« Texte, sondern oft auf jene, die Reibung erzeugen, die spröde sind, widerständig, eigensinnig.
Was neu für mich war: Beim Lesen für den open mike konnte ich das Verlagsprofil oder Kriterien wie Verkäuflichkeit außer acht lassen. Und auch das Mitdenken der lauten Vortragsart und die Frage, wie gut der Text als geschlossene Kurzform funktioniert, waren ebenfalls sehr reizvoll.
Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?
Mir sind viele Weltuntergangsszenarien begegnet. Obwohl – sollte mich das überraschen?
Welche Entwicklungen und Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?
Ich arbeite seit 2015 als Lektorin und auch wenn ich die deutschsprachige Gegenwartsliteratur schon weitaus länger beobachte: Hier können andere Substanzielleres beitragen. Zumal ich mich mit gefühlten Wahrheiten und unfundierten Feststellungen schwertue, die ich für eine zwangsläufig verknappte Antwort an dieser Stelle bemühen müsste.
Was wünschen Sie sich für die junge Literatur der kommenden Jahre?
Dass Autor*innen Gehör finden, die sich auf ihre eigene Stimme, ihre eigenen Ausdrucksformen verlassen und sich in ihrem Schreiben auf das konzentrieren, was sie tief im Innern umtreibt. Und eine junge Literatur, die unbeugsam bleibt, frei entstehen kann, pluralistisch ist, immer wieder auch unbequem, die ihre Leser*innen herausfordert – und diese auch erreicht, denn Literatur will (und muss) gelesen werden.
Wie unterscheidet sich die Arbeit mit jungen Autor*innen im Vergleich zu jener mit etablierten?
Es kommt recht wenig darauf an, wie jung oder alt ein Autor oder eine Autorin ist, sondern ob es sich um eine erste Publikation handelt oder schon Erfahrungen mit verlegerischer Arbeit und dem Buchmarkt gemacht wurden. Essentiell ist eigentlich die Feststellung, dass die Arbeit mit Autorinnen und Autoren immer so unterschiedlich ist wie die Autoren und Autorinnen selbst, ihre Charaktere, Temperamente, Erwartungen – und nicht zuletzt die Buchprojekte selbst eine auf sie zugeschnittene Herangehensweise einfordern. Das ist ein Aspekt, warum der Lektoratsberuf so spannend ist: Es gibt nie ein Schema F.
Nadya Hartmann (*1985) studierte Romanistik und Soziologie und absolvierte ein Volontariat beim Literarischen Zentrum Göttingen, sowie Praktika u.a. beim ZDF, Wallstein Verlag, Galiani Verlag und der FAZ. Seit 2013 arbeitet sie bei der Frankfurter Verlagsanstalt, wo sie seit 2015 für Lektorat und Lizenzen zuständig ist.
Ausgewählte Teilnehmer*innen
Lisa Krusche
Katrin Pitz
Mascha Unterlehberg
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Eva-Maria Kaufmann
Welche Kriterien haben Sie an die open mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag heranziehen?
Ich versuche, als Lektorin gute Texte zur Veröffentlichung im Verlag zu finden; als open mike-Vorjurorin gute Texte für den Wettbewerb auszuwählen. Welche Kriterien habe ich für gute Texte? Gibt es Kriterien für gute Literatur, und welche sind es? Ich möchte hier keine Ästhetik aufstellen. Was ich an Texten suche, ist geschult an meiner Leserinnenkarriere. Ich lese, mein Urteil schärft sich. Wie das geschieht, hängt von vielen Faktoren ab, von denen mir nicht alle bewusst sind. Unerlässlich: viel zu lesen, Verschiedenes zu lesen, darüber nachzudenken, Mechanismen der Kanonisierung und Strukturelles mitzudenken. Bei den open mike-Texten habe ich außerdem berücksichtigt, dass sie auf einer Bühne vorgetragen werden, in einem bestimmten Rhythmus, der spürbar wird. Und dass sie in kein Verlagsprogramm passen müssen, heißt auch, dass sie sich an keiner bestimmten Form wie bspw. einem »Roman« messen lassen müssen.
Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?
Ich finde es immer wieder angenehm überraschend, auf wie viele Arten unterschiedliche Texte gut sein können. Ein Verlagsprogramm liefert einen Entscheidungsrahmen; wenn der wegfällt und auch jegliche biografische Information, ist man viel schneller auf den Kern dessen zurückgeworfen, was das eigene literarische Urteil rein textbezogen ausmacht. Und erstaunt war ich ob der außerordentlich hohen Anzahl an Ich-Erzähler*innen in meinem Stapel.
Welche Entwicklungen und Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?
Ich sehe es nicht als meine Aufgabe, Trends zu diagnostizieren. Das überlasse ich gerne Journalist*innen. Die können das auch besser, weil sie viel mehr sehen als ich, die ich in einem kleinen Ausschnitt des Feldes arbeite.
Was wünschen Sie sich für die junge Literatur der kommenden Jahre?
Literatur entsteht nicht in einem luftleeren Raum. Gute Strukturen helfen. Ich wünsche den jungen Literaturschaffenden fröhliche Vernetzung untereinander und von Anfang an Räume, in denen sie arbeiten, über Texte sprechen und sie auch publizieren können.
Wie unterscheidet sich die Arbeit mit jungen Autor*innen im Vergleich zu jener mit etablierten?
Das kann man so pauschal nicht sagen. Jede Grenzlinie, die man hier zieht, könnte auch anders verlaufen. Meiner Erfahrung nach unterscheidet sich meine Arbeit von Autor*in zu Autor*in. Das ist ja das Großartige daran: dass ich in meinem Beruf nie ausgelernt haben werde. Das liegt daran, dass ich mit Literatur arbeite und mit Menschen, die sie schaffen. Jeder Text stellt neue Anforderungen an mich, genau wie jede*r Autor*in.
Eva-Maria Kaufmann (*1983) studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik und Spanisch in Berlin und Salamanca. Sie arbeitete als Lektorin für Literatur im Piper Verlag, seit 2018 ist sie Lektorin für Literatur bei dtv. Zudem ist sie Seminarleiterin bei der Bayerischen Akademie des Schreibens und in der Jury des Münchner Literaturstipendiums.
Ausgewählte Teilnehmer*innen
Sina Ahlers
Sebastian Behr
Simon Liening
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Susanne Krones
Welche Kriterien haben Sie an die open mike-Texte angelegt? Waren es dieselben, die Sie bei Ihrer Auswahl im Verlag heranziehen?
Ein Ton, der trägt. Eine Sprache, die Kraft hat und leuchtet. Eine Geschichte, die mich über eine Grenze trägt, die ich bisher nicht genommen habe, die mir in irgendeiner Weise Neuland erschließt und der ich den Mut anmerke, den es gebraucht hat, sie zu schreiben.
Im Wesentlichen waren die Kriterien die gleichen wie bei der Arbeit im Verlag, wobei eines einen großen Unterschied macht: die Form des mündlich vorgetragenen Wettbewerbsbeitrag. Ich habe drei Texte verworfen, weil ihre stilistischen und erzählerischen Mittel für die Buchform originell gewesen wären, sich im Vortrag aber nicht vermittelt hätten. Was ich aber auch getan habe: Einen Text, der sich stilistisch hervorragend für den Vortrag geeignet hätte, habe ich verworfen, weil er inhaltlich und erzählerisch zu dünn war und in gedruckter Form nicht überzeugt hätte. Und das müssen die open mike-Texte natürlich auch.
Was hat Sie bei der Lektüre der Manuskripte überrascht?
Angenehm überrascht haben mich bei den Manuskripten dieses Jahrgangs die Fülle der beschriebenen Lebenswelten und die Vielfalt der Protagonistinnen und Protagonisten.
Unangenehm überrascht haben mich in zu vielen Texten windschiefe Bilder und plumpe Vergleiche. Ein Herz, das knistert wie Alufolie. Ein Blick, der schwer an jemandem hängt wie katalanischer Schinken an der Decke. Zu oft stellte sich das Gefühl ein: Wenn der Autor, die Autorin diesen Text kein zweites Mal gelesen hat, warum sollte es jemand anders tun?
Welche Entwicklungen und Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?
Mich freut, dass die Gegenwartsliteratur wieder stärker ein Ort geworden ist, an dem die Fragen der Zeit ausgetragen werden – vor allem Fragen nach Identität, ob kulturell, religiös oder ethnisch gedacht, Fragen nach Geschlechterverhältnissen, nach den Rollen, die wir in der Gesellschaft spielen und ihrer Veränderbarkeit. Das kann uns und der Gegenwartsliteratur nur gut tun.
Was wünschen Sie sich für die junge Literatur der kommenden Jahre?
Ich wünsche ihr Geschichten und Erzählweisen, denen man anmerkt, dass sie 2019, 2020, 2021 … entstanden sind. Und damit meine ich gerade nicht, dass sie zwar Trendthemen aufgreifen, aber erzählt sind, als hätten sie auch in den frühen 2000ern oder 1990ern erscheinen können. Ich wünsche ihr eine lebendige Literaturkritik, die Zeit und Raum hat, auch abseits der Long- und Shortlists zu empfehlen und zu entdecken und ohne Schablonen und allzu grobe Raster zu beschreiben, was es da zu empfehlen und zu entdecken gibt. Ich wünsche ihr ein Umfeld, das sie begleiten kann – und damit den literarischen Zeitschriften, den literarischen Wettbewerben und unserer vielfältigen Verlagslandschaft nur das Beste.
Wie unterscheidet sich die Arbeit mit jungen Autor*innen im Vergleich zu jener mit etablierten?
Grundsätzlich würde ich sagen: Die Zusammenarbeit mit einer Autorin, mit einem Autor ist immer auf ihre Art einzigartig. Es gibt diejenigen, die von der ersten Idee an in einem Gespräch mit mir als Lektorin bleiben möchten, das bis zum vollständigen Romanmanuskript nicht abreißt, von dem ich dann diverse Fragmente, Vorfassungen und Fassungen kenne. Es gibt diejenigen, die für sich arbeiten und außer einer vagen Idee erst einmal nichts nach außen geben möchten, bis eine erste Fassung im Mailpostfach liegt, über die man sprechen kann. Und es gibt neben diesen Papierarbeitern noch die Kopfarbeiter, die sich selbst mit der Manuskriptfassung überraschen, weil sie ohne Vorarbeiten im Schreiben entsteht. Diese sehr verschiedenen Spielarten der Zusammenarbeit gibt es mit Autorinnen und Autoren jeder Generation – das Wichtigste ist Vertrauen, auf beiden Seiten.
Was die Zusammenarbeiten mit Debütanten von der mit etablierten Autorinnen und Autoren am ehesten unterscheidet, sind die Fragen, die man bespricht: Debütantinnen und Debütanten wollen und brauchen oft Rat, was sie als zweites oder drittes Buch angehen könnten, auch wenn sie Ideen für ihre zukünftigen Bücher haben. Erfahrene Autorinnen und Autoren wissen oft sehr genau, was für Stoffe sie angehen möchten und was der einzelne Stoff für Herausforderungen an sie stellen wird. Dazu kommen viele Fragen, die mit dem Auftreten als Autor, als Autorin zu tun haben: Debütantinnen und Debütanten müssen für sich herausfinden, wie sie in sozialen Netzwerken auftreten, wie persönlich sie sich in Interviews geben, wie sie sich bei Lesungen inszenieren wollen. Erfahrene Autorinnen und Autoren haben sich in der Regel längst für einen Weg entschieden, der ihrer Persönlichkeit entspricht. Auch der Umgang mit der Rezeption des Buches kann einen großen Unterschied machen: Während erfahrene Autorinnen und Autoren ihren Weg gefunden haben, in den aufregenden Wochen nach dem Erscheinen eines Buches mit dem großen oder vielleicht ausbleibenden Interesse, mit guten und schlechten Kritiken umzugehen, möchten jüngere sich dazu oft besprechen.
Susanne Krones (*1979) studierte Literaturwissenschaft in Berlin und Buchwissenschaft in München, wo sie auch promovierte. Sie arbeitet seit 2005 als Lektorin, zunächst im Deutschen Taschenbuch Verlag dtv und seit 2012 im Luchterhand Literaturverlag sowie für btb. Seit Sommer 2019 ist sie Programmleiterin für deutschsprachige Literatur bei Penguin Hardcover. Sie ist außerdem Autorin bei Wallstein und dtv und regelmäßig Mitglied in Jurys, etwa für die Literaturstipendien des Freistaats Bayern, die Münchner Literaturstipendien und den Carl-Amery-Preis.
Ausgewählte Teilnehmer*innen:
Annina Haab
Sarah Kuratle
Laetizia Praiss