Für seinen Workshop veranschlagt Lyriker und Autor Björn Kuhligk ein Thema, das kaum zu beantworten sein wird: Wie schreibe ich über Menschen, die im Mittelmeer ertrinken?
Um die Diskussion anzuregen, legt er den Teilnehmer*innen vier Bilder vor, die ganz unterschiedlich sind, und doch in einem Zusammenhang stehen: Das durch alle Medien gegangene Foto des vierjährigen Alan Kurdi, der ertrunken an der türkischen Küste angespült wurde, eine zerbombte Stadt, ein Schiffsbauch mit zurückgelassenen Kleidern und eine Fotografie, die vor einem Zelt zerdrücktes Gras zeigt. Es wird darüber diskutiert, über welches dieser Fotos am ehesten geschrieben werden könnte und sollte. Kuhligk erzählt eine Anekdote: Er habe mit demjenigen, der das Gras fotografierte, gesprochen. Der Fotograf habe ihm gesagt, dass er, um Leser*innen zu erreichen, in der Flüchtlingsthematik lieber Leerstellen zeigen wolle, alles andere sei bereits zu oft fotografiert worden und die Leute wollten diese Bilder nicht mehr sehen.
Die Teilnehmer*innen des Workshops diskutieren im Anschluss darüber, welche Perspektiven man einnehmen dürfe. Ein Teilnehmer erzählt, dass er einen Roman über Obdachlosigkeit schreibe. Seine Lösung, um sich diesem Thema gerecht anzunähern, sei, weder einen Ich- noch einen allwissenden Erzähler zu wählen, sondern viele Stimmen, die die Gesellschaft in allen Facetten repräsentieren. Denn auch das ist eine wichtige Frage: Wie vorwärtstasten bei einer Angelegenheit, in die man nicht persönlich involviert ist? Eine Mitwirkende erinnert an den Roman Gehen, ging, gegangen von Jenny Erpenbeck, die sich, um über Flucht zu schreiben, für die Perspektive eines Mitteleuropäers entschied, der mit Flüchtlingen aus afrikanischen Ländern spricht. Das sei eine Möglichkeit, sagt sie, um darüber zu schreiben und zugleich bei sich selbst zu bleiben.
Eine kleine Diskussion entbrannt, ob man sich als Autor*in jede Sicht aneignen dürfe, als Weiße*r beispielsweise aus der Sicht eines*r Schwarzen schreiben, obgleich man Rassismus nicht am eigenen Leibe erlebt habe. Während sich eine Teilnehmerin dagegen verwehrt, kritisiert eine andere den Begriff »Kultur«, den man nicht als Absolutes ansehen solle. Wer lang genug in einem Kulturkreis lebe und mit den Menschen spräche, dürfe auch aus deren Perspektive schreiben. Eine weitere Mitwirkende führt als Beispiel den Roman Blauschmuck von Katharina Winkler an, in dem eine weiße Autorin über die Erfahrungen einer kurdischen Frau schreibt. Viele Kurden haben über die schwarzweiße Darstellung, alle Kurden würden ihre Frauen schlagen, während die Protagonistin von einem weißen Arzt gerettet wird, schlichtweg lachen müssen. Eine Lösung sei vielleicht, den Text Leuten mit entsprechendem kulturellen Background vorzulegen. Allerdings schränkt sie ein: »Ich will auch nicht immer den Erklärbär für Weiße spielen.« Generell merke man vielen Texten oft das intendierte (westliche) Publikum an. Björn Kuhligk teilt die Meinung derjenigen, die sagen, dass sich Kunst alles erlauben könne: »Darf ich über ein Schnitzel schreiben, ohne ein Schnitzel zu sein? Ich glaube, ja.«
Zuletzt wird über Gedichte gesprochen, schließlich ist nicht nur Kuhligk himself Lyriker, es sitzen auch mehrere Lyriker*innen in dem Workshop. Man solle in literarischen Texten, gleich welcher Form, nicht alle Schlagworte, die mit einem Thema assoziiert werden, konkret benennen. Die Teilnehmenden finden zwei Gedichte, die als gute Beispiele fungieren: Eines von Nora Gomringer, die Auschwitz thematisiert und Wörter wie »Zug« oder »Rampe« verwendet, was alle im Workshop erstaunlich einstimmig abzulehnen scheinen, und zum anderen »Photograph from September 11« von der polnischen Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska, die sich nicht auf brennende Türme und sterbende Menschen, sondern auf kleine Details wie aus Taschen fallende Münzen konzentriert. Der Kurs ist sich einig: Das eine Gedicht hat eine empathische Haltung, das andere nicht.
Sind wir in diesen wenigen Stunden des Workshops der Frage, wie man über Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, schreiben kann, denn nähergekommen? Eigentlich sei es absurd, nur darüber zu reden, sinniert Björn Kuhligk, und plädiert für »weniger Theorie, mehr machen«. Ein Teilnehmer widerspricht: Allein mit der heutigen Sitzung seien extrem viele schlechte Sätze vermieden worden.